Hawaii
Abends. Dann wurde das Zimmer wieder verdunkelt, und im Schein der einen Lampe konnte Shig auf dem Grammophon lesen: >Bruckner, die Erste Symphonie.< Es war eine Londoner Aufnahme, und ihm gefiel die Musik.
Als sie dann durch die letzten der Schimbaschi-Mädchen, die noch keinen Mann für die Nacht gefunden, aber noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, zu ihrem Hotel gingen, sagte Shig: »Ich würde sie heiraten, Goro. Sie ist wunderbar.«
»Das will ich auch«, erwiderte der Bruder.
Auf diese sonderbare Art lernten die Sakagawa-Brüder das Land ihrer Vorfahren kennen und sahen, wie verschieden es von dem war, was ihre Eltern davon in der Erinnerung bewahrt hatten. Aber sie lernten hier auch Hawaii kennen, und eines Abends, als sie im Dai-Ichi-Hotel saßen, schlug Goro mit seinem Bierglas auf den Tisch und rief wütend: »Es ist Wahnsinn, daß wir hier sind, Shig. Wir sollten diese Arbeit zu Hause tun.« Und während sie in Japan an die Arbeit gingen, dachten sie an Hawaii.
1947 erlebte das große Kee-Hui ein denkwürdiges Ereignis, denn Nyuk Tsin wurde einhundert Jahre alt, und die Familie veranstaltete ihr zu Ehren eine Reihe von Festen, die in einem ausgedehnten Essen mit vierzehn Gängen in Asiens glänzendem Restaurant ihren Höhepunkt fanden. Das kleine, alte Familienoberhaupt, das nur noch dreiundachtzig Pfund wog, erschien bei allen Festen in einem schwarzen Kleid und hatte ihr spärliches Haar straff nach hinten gezogen. Es schwatzte mit ihrer großen Familie und war stolz auf deren Darbietungen. Es freute sich vor allem über Hong Kongs jüngste Tochter Judy, die von der Universität, wo sie studierte, einen Klavierspieler mitgebracht hatte und zusammen mit ihm alte chinesische Lieder sang. Nyuk Tsin, die das aufgeweckte Gesicht Judys beobachtete, dachte: Sie könnte ein Mädchen aus dem Oberdorf sein. Ich frage mich, was dort wohl jetzt geschieht.
Hunderteinundvierzig Ururenkel nahmen an den Festlichkeiten teil, und ihnen brachte Nyuk Tsin ihre besondere Liebe entgegen. Jedesmal, wenn ihr ein Kind vorgestellt wurde, fragte sie es im Hakka-Dialekt: »Und wie heißt du, mein Liebes?« Dann stieß die Mutter das Kind an und sagte auf englisch: »Sag der Tante deinen Namen.« Aber wenn das Kind antwortete: »Harry Rodriques«, korrigierte ihn Nyuk Tsin und bestand auf seinem richtigen Namen. So antwortete das Kind: »Kee Doh Kong.« Und Nyuk Tsin erklärte sich mit Hilfe des Familiengedichts den Namen und wußte, wer vor ihr stand.
Auch mit ihrem eigenen Namen hatte sie Schwierigkeiten, denn nun lebte niemand mehr, der wußte, wie sie eigentlich hieß. Selbst die Söhne, die noch lebten und jetzt rüstige Siebziger und Achtziger waren, hatten nie ihren Namen erfahren. Stets hatte sie ihre Persönlichkeit in dem mächtigen Hui aufgelöst, dessen Oberhaupt sie war. Sie war damit zufrieden, als Wu Chows Tante, die namenlose Konkubine, zu regieren. Aber wenn sie Zwiesprache mit sich selbst hielt, dann war sie unweigerlich Char Nyuk Tsin, die Tochter des tapferen Bauern, der bis zum General aufgestiegen war. Sie war deshalb tief bewegt, als nach den Festlichkeiten ihre beiden Söhne Asien und Europa zu ihr kamen und sagten:
»Wu Chows Tante, ich sehe keinen Grund, weshalb wir noch weiter Geld an unsere Mutter im Niederdorf schicken. Sie muß lange tot sein, und ihre Familie hat nie etwas für uns getan.«
»Andererseits«, erwiderte Nyuk Tsin, »lebt sie vielleicht doch noch, genau wie ich. Und wenn das der Fall ist, dann braucht sie das Geld nötiger denn je. Schließlich ist sie eure Mutter, und ihr schuldet ihr Respekt.« Nur ein Schatten lag auf ihrem hundertsten Geburtstag: Ihr bevorzugter Enkel Hong Kong war offensichtlich in Schwierigkeiten geraten, denn er war unruhig und reizbar. Nyuk Tsin vermutete, daß es ihm Mühe machte, all den Zahlungsforderungen nachzukommen, die mit den Unternehmungen verbunden waren, zu denen sie ihn angeregt hatte. Es tat ihr leid, daß er in diesen anstrengenden Tagen die Last alleine tragen mußte und nicht sie. Als deshalb das große Dinner in Asiens Restaurant vorüber war, erklärte die kleine, alte Dame den Frauen, die sie umgaben, daß sie Hong Kong sprechen wolle, und nachdem sie zurückgebracht worden war und ihren Körper samt den häßlichen, großen Füßen auf Lepra untersucht hatte, erschien sie in einem schwarzen, seitlich zugeknöpften Kleid und fragte im Hakka-Dialekt: »Hong Kong, liegen die Dinge so schlecht?«
»Wu Chows Tante, die Detektive
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