Hawks, John Twelve - Dark River
Besucher über den Marmorboden oder studierten Raffaels Grab. Maya stand in der Mitte des riesigen Tempels und versuchte, sich einen Plan zurechtzulegen. Was sollte sie sagen, wenn sie Lumbroso begegnete? War es möglich, dass er einen Weg wusste, Gabriel zu retten?
Etwas flog durch die Luft, und sie blickte hinauf zum Opaion, der runden Öffnung in der Kuppelmitte. Eine graue Taube hatte sich in den Tempel verirrt und suchte nach einem Ausweg. Mit verzweifelten Flatterbewegungen stieg der Vogel in einer engen Spirale in die Höhe. Aber die Öffnung war zu weit oben, und die Taube gab jedes Mal auf, wenn sie nur noch wenige Meter von der Freiheit trennten. Maya konnte sehen, dass die Taube müde wurde. Jeder neue Versuch endete mit einem Fehlschlag und ließ den Vogel niedriger fliegen – er wurde vom Gewicht seines erschöpften Körpers nach unten gezogen. Das Tier war zu verängstigt und konnte nichts anderes als weiterzufliegen, so als würde die Bewegung selbst die Lösung bringen.
Die Gewissheit, die sie in London gespürt hatte, schien zu schwinden. Maya fühlte sich albern und schwach, und sie verließ den Tempel, hastete durch die Straßen und mischte sich unter die Menschen, die am Teatro Argentino in Busse und Straßenbahnen stiegen. Maya ging um die Ruinen auf der Platzmitte herum und schlug sich in ein Labyrinth aus engen Gassen, das früher einmal das jüdische Ghetto gewesen war.
Vor langer Zeit hatte das Ghetto eine ähnliche Funktion gehabt wie der Londoner Osten während der viktorianischen Epoche – als Zufluchtsort, wo Flüchtige sich verstecken und Verbündete finden konnten. Seit dem zweiten Jahrhundert vor Christus hatten Juden in Rom gelebt, aber erst im sechzehnten Jahrhundert zwang man sie, in den ummauerten Stadtteil nahe beim alten Fischmarkt zu ziehen. Sogar die jüdischen Ärzte, die italienische Aristokraten behandelten, durften das Ghetto nur bei Tageslicht verlassen. Die jüdischen Kinder mussten an jedem Sonntag eine Predigt in der Kirche Sant’Angelo in Pescheria über sich ergehen lassen, wo ein Ordensbruder ihnen erzählte, sie seien verdammt und die Hölle sei ihnen sicher. Die Kirche stand noch, daneben befand sich eine große weiße Synagoge, die aussah wie ein Museum aus der Belle Epoque, das man aus Paris hierherverpflanzt hatte.
Simon Lumbroso wohnte in einem zweistöckigen Haus unweit der Ruinen des Portikus von Oktavian. Sein Name stand auf einem Messingschild neben der Tür, das außerdem seine Tätigkeit auf Italienisch, Deutsch, Französisch, Hebräisch und Englisch beschrieb: SIMON LUMBROSO / STAATL. GEPRÜF-TER KUNSTGUTACHTER.
Maya drückte auf den schwarzen Klingelknopf, aber nichts geschah. Als sie es erneut versuchte, tönte eine Männerstimme aus dem Lautsprecher in der Wand. »Buon giorno.«
»Guten Tag. Ich bin auf der Suche nach Mr. Lumbroso.«
»Aus welchem Grund?« Die Stimme, die zuerst so warm und herzlich geklungen hatte, bekam einen scharfen, misstrauischen Unterton.
»Ich spiele mit dem Gedanken, ein bestimmtes Objekt zu erwerben. Ich möchte wissen, wie alt es ist.«
»Ich sehe Sie auf dem Videomonitor, aber ich kann keine Statuen oder Gemälde entdecken.«
»Es geht um ein Schmuckstück. Eine goldene Brosche.«
»Ach so. Schöner Schmuck für una bella donna.«
Der Türöffner summte, und Maya betrat das Haus. Im Erdgeschoss sah sie zwei Zimmerfluchten, die auf einen Innenhof hinausgingen. Die Wohnung wirkte, als hätte jemand die Ausstattung eines Chemielabors und einer Kunstgalerie in einem Lastwagen verstaut und am selben Ort abgeladen. Im vorderen Zimmer entdeckte Maya auf verschiedenen Tischen ein Spektroskop, eine Zentrifuge und ein Mikroskop, dazu Bronzestatuen und alte Gemälde.
Sie machte einen Bogen um einige antike Möbelstücke und betrat das Hinterzimmer, in dem ein bärtiger Mann Anfang siebzig an einer Werkbank saß und ein Stück Pergament mit leuchtender Schrift untersuchte. Der Mann trug eine schwarze Hose, ein langärmeliges weißes Hemd und eine schwarze Kippa. Wie bei vielen orthodoxen Juden waren auch bei ihm die weißen Zipfel des Tallit zu sehen, des Gebetsmantels aus Leinen, den er wie einen Poncho unter der Kleidung trug.
Der Mann zeigte auf die Pergamentseite, die auf der Werkbank lag. »Das Papier ist alt, vermutlich aus einer Bibel herausgeschnitten, aber die Schrift ist aus neuerer Zeit. Im Mittelalter rührten die Mönche ihre Tinte aus Ruß und geriebener Muschelschale an, manchmal verwendeten sie sogar
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