Hawks, John Twelve - Dark River
mehr Überwachungskameras gab als in jeder anderen Stadt auf der Welt. Der Ort war gefährlich, und sein Vater musste aus einem wirklich wichtigen Grund dorthin gegangen sein.
Niemand beachtete Gabriel, als er seine Tasche öffnete und das Geld aus dem Bündel zählte, das Vicki ihm am Vorabend gegeben hatte. Anscheinend besaß er genug, um sich ein Flugticket nach Großbritannien zu kaufen. Weil Gabriel immer außerhalb des Rasters gelebt hatte, ließen sich die biometrischen Daten auf dem Chip in seinem Reisepass mit keiner Identität abgleichen, die dem System bekannt war. Maya war überzeugt gewesen, dass er problemlos ins Ausland würde reisen können. Für die Behörden war er ein Bürger namens Tim Bentley, der als Makler für Gewerbeimmobilien in Tucson, Arizona, arbeitete.
Gabriel trank seinen Kaffee aus und ging noch einmal zum Gedenkstein im Tompkins Square Park zurück. Mit einem Stück Zeitung wischte er seine ursprüngliche Nachricht weg und schrieb: G2LONDON. Er fühlte sich wie ein Schiffbrüchiger nach der Katastrophe, der eine Botschaft in ein Stück Holz schnitzt. Falls seine Freunde noch am Leben waren, würden sie die Nachricht verstehen. Sie würden ihm nach London folgen und ihn am Tyburn Convent treffen. Falls alle tot waren, schrieb er seine Botschaft für niemanden.
Gabriel verließ den Park, ohne sich noch einmal umzudrehen. An der Avenue B wandte er sich nach Süden. Die Morgenluft war immer noch kühl, aber der Himmel war strahlend und klar und so blau, dass es Gabriel fast in den Augen schmerzte. Er ging weiter seines Weges.
ELF
M ichael leerte seine zweite Tasse Kaffee, erhob sich vom Eichentisch und stellte sich an das gotische Fenster am Ende des Frühstückszimmers. Die Bleifassungen in den Fenstern legten ein schwarzes Raster auf die Außenwelt. Michael befand sich westlich von Montreal auf einer Insel im Sankt-Lorenz-Strom. In der Nacht hatte es geregnet, und am Himmel hing eine dichte Wolkendecke.
Um elf Uhr wollte der Vorstand der Bruderschaft die Sitzung eröffnen, aber das Schiff mit den Vorstandsmitgliedern war noch nicht eingetroffen. Die Überfahrt von Chippewa Bay nach Dark Island dauerte ungefähr vierzig Minuten. Bei schwerem Seegang flüchteten die bleichen Passagiere aufs Deck. Die Anreise per Helikopter aus jeder beliebigen Stadt im Staate New York wäre weniger umständlich gewesen, aber Kennard Nash hatte es abgelehnt, neben dem Bootshaus einen Landeplatz bauen zu lassen.
»Die Überfahrt stellt für die Mitglieder der Bruderschaft ein besonderes Erlebnis dar«, hatte Nash erklärt. »So bekommen sie das Gefühl, sich aus ihrem normalen Leben zu entfernen. Das verstärkt gewissermaßen ihren Respekt vor der Einzigartigkeit unserer Organisation.«
Michael musste feststellen, dass er Nash nur beipflichten konnte. Dark Island war tatsächlich ein einzigartiger Ort. Ein wohlhabender amerikanischer Industrieller, der sein Geld mit Nähmaschinen verdient hatte, hatte das Anwesen auf der Insel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts errichten lassen. Man hatte Granitblöcke über den zugefrorenen Fluss geschleift, um den dreistöckigen Glockenturm, ein Bootshaus und ein Schloss zu bauen. Das Schloss verfügte über kleine und große Türme und offene Kamine, manche davon so groß, dass man einen ganzen Ochsen darin hätte braten können.
Inzwischen gehörte die Insel ein paar reichen Deutschen. Während der Herbstmonate gestattete man Touristen Zutritt, aber für den Rest des Jahres war das Schloss der Bruderschaft vorbehalten. Michael und General Nash waren vor drei Tagen in Begleitung eines Technikerteams der Evergreen Foundation angekommen. Die Männer installierten Mikrofone und Kameras, damit Mitglieder aus der ganzen Welt an der Vorstandssitzung teilnehmen konnten.
Am ersten Tag auf der Insel war es Michael erlaubt, das Schloss zu verlassen und allein auf den Klippen spazieren zu gehen. Dark Island hatte seinen Namen den mächtigen Tannen zu verdanken, deren Äste sich über den Wegen kreuzten, das Licht abschirmten und dunkle, grüne Tunnel formten. Am Rand der Klippen entdeckte Michael eine Marmorbank. Er verbrachte mehrere Stunden dort, atmete den würzigen Tannenduft ein und starrte auf den Fluss.
Das Abendessen nahm er zusammen mit General Nash ein, danach tranken sie einen Whiskey im eichenvertäfelten Salon. Alles im Schloss war massiv – die handgeschnitzten Möbel, die Bilderrahmen, die Schränke, in denen die Drinks aufbewahrt wurden. An den
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