Hazienda der Traeume - Julia Saisonband Bd 66
entdeckte auf dem Kaminsims eine Schachtel Streichhölzer. Nach fünf Versuchen gelang es ihr, ein Feuer zu machen, das hoffentlich für ein wenig Wärme sorgen würde.
Nachdem sie den Koffer in den Schrank gestellt hatte, ging sie ins Bad, das ebenfalls riesig war. Sie hatte die Auswahl zwischen einer gemauerten Duschkabine und einer auf Klauenfüßen stehenden Badewanne. Julie sehnte sich nach einem gemütlichen Bad und drehte den Heißwasserhahn auf. Während das Wasser einlief, kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und nahm Shampoo und eine duftende Badeessenz aus ihrer Reisetasche, von der sie einige Tropfen ins Wasser gab. Schließlich zog sie sich aus und ließ sich erschöpft in die Wanne gleiten.
Das tat gut. Sie schloss die Augen und überlegte, wie sie die kommenden drei Monate überstehen sollte. Der kleine Enrique machte keinen sehr freundlichen Eindruck, und die Haushälterin war eine richtige Hexe. Was Señor Vega betraf … Melendez hatte ihn einen Künstler genannt. Einen Bildhauer, der sich zum Einsiedler und Schläger gewandelt hatte. Er hatte sogar unterstellt, dass alle Künstler etwas verrückt seien.
Traf das auch auf Vega zu?
Sie tauchte unter Wasser. Als sie wieder hochkam und nach dem Shampoo greifen wollte, ging das Licht aus.
„Verflixt!“, rief Julie wütend. Was, um alles in der Welt, hatte sie nur dazu bewogen, einen Job in dieser gottverlassenen Gegend anzunehmen?
2. KAPITEL
Er hätte unmissverständlich nach einem Lehrer verlangen sollen. Jetzt hatte man ihm diese junge, tropfnasse Ausländerin geschickt. Wie eine Lehrerin sah sie nicht gerade aus!
Fluchend zog Rafael sich in sein Atelier zurück und schlug die Tür hinter sich zu. Im schummrigen Licht des frühen Abends fiel sein Blick auf die halb fertige Büste des Cervantes. Ihm schien, als mustere die Figur ihren Schöpfer strafend.
Das steigerte Rafaels Wut noch. Wieso hatte er vor einem knappen Jahr überhaupt den Auftrag angenommen, die Büste anzufertigen? Er war denkbar unzufrieden mit dem Werk und hatte auch keine Lust, es fertigzustellen.
Die begonnene Büste des Jungen auf dem Arbeitstisch schien ihn ebenfalls anklagend anzuschauen. Er ging hinüber, musterte die Plastik missmutig und wandte sich wieder ab. Im Hintergrund befand sich ein weiteres – verhülltes – Werk, dem er überhaupt keine Beachtung schenkte.
Stattdessen blickte er aus dem Fenster und dachte über die junge Lehrerin nach. Er wollte sie nicht in seinem Haus haben. Weder sie noch irgendeine andere Frau. Er würde es ihr beim Abendessen mitteilen und ihr erklären, Professor Melendez habe offensichtlich überhört, dass nur ein Lehrer infrage kam. Er beschloss, ihr das Honorar für einen Monat zu zahlen und sie wegzuschicken. Damit wäre die Angelegenheit erledigt.
Der Speisesaal – anders konnte man den riesigen, im mittelalterlichen Stil eingerichteten Raum nicht bezeichnen – machte einen ebenso bedrückenden Eindruck wie der Rest der Hazienda, den Julie bisher gesehen hatte.
Ein gewaltiger Messingkronleuchter hing von der hohen, getäfelten Decke herab und warf ein unangenehm schummriges Licht auf die Tafel, an der wohl dreißig Personen Platz finden könnten. Selbst das prasselnde Kaminfeuer trug wenig zu einer gemütlichen Atmosphäre bei. Die dunklen Vorhänge vor den Fenstern wirkten ebenfalls alles andere als aufmunternd.
Vega war wieder ganz in Schwarz gekleidet, hatte jedoch den Rollkragenpullover gegen Hemd und Krawatte getauscht. Er saß am Kopf der Tafel mit Kico zu seiner Rechten. Auf dem wuchtigen Stuhl wirkte der Junge noch kleiner.
Der Künstler erhob sich, als Julie den Raum betrat und lud sie ein, zu seiner Linken Platz zu nehmen. „Sie haben sich verspätet, Señorita“, sagte er auf Spanisch. „Das Abendessen wird Punkt sieben Uhr serviert, nicht zehn Minuten nach sieben.“
„Entschuldigung.“ Julie setzte sich auf den schweren Stuhl. „Leider habe ich mich verlaufen.“
„Sie haben sich verlaufen?“, fragte Kico erstaunt. „Wie kann man sich denn in einem Haus verlaufen?“
„Keine Ahnung, aber ich habe es geschafft.“ Julie lächelte entschuldigend. „Offenbar habe ich zweimal die falsche Richtung eingeschlagen. Ich war drauf und dran, draußen ein Lagerfeuer zu entzünden und Rauchsignale zu senden.“
„Wirklich? Wie die Indianer damals, bevor sie einen Zug überfallen haben?“ Der Kleine lachte begeistert. „Das habe ich mal im Fernsehen gesehen.“ Er stützte einen Ellbogen auf den Tisch
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