Headhunter
Bratli. Seine Bewerbung für eine Führungsposition hatte ich
einmal nicht berücksichtigt, obwohl er der mit Abstand qualifizierteste
Kandidat gewesen war. Und groß. So groß, dass er sich in unserem letzten
Gespräch beklagt hatte, in seinem Ferrari immer den Kopf einziehen zu müssen.
Dieses Auto war eine kindliche, dumme Investition gewesen, wie er mir mit einem
jugendlichen Lächeln eingestanden hatte, und er konnte den Kauf vermutlich nur
mit seiner Midlife-Crisis erklären. Ich hatte mir damals notiert: OFFEN, GENUG
SELBSTVERTRAUEN, UM AUCH SEINE SCHLECHTEN SEITEN ZU OFFENBAREN. Alles war
eigentlich perfekt gewesen, hätte er dann nicht noch diesen einen Satz
nachgeschoben: »Wenn ich mir in diesem Auto den Kopf stoße, bin ich manchmal
richtig neidisch ...«
Er
hatte den Satz an dieser Stelle abgebrochen, den Blick von mir abgewendet und
einen der Firmenrepräsentanten angesehen. Dann verkündete er, dass er den
Ferrari jetzt gegen ein Allradfahrzeug eintauschen werde, ein Gefährt, das man
ruhig auch mal seiner Frau anvertrauen kann. Alle am Tisch hatten gelacht. Ich
auch. Mit keiner Miene hatte ich verraten, dass ich seinen vorher begonnenen
Satz in Gedanken vollendet hatte - »Neidisch ... auf so kleine Leute wie Sie«
- und ihn ein für alle Mal von der Liste der erfolgversprechenden Kandidaten
gestrichen hatte. Leider besaß er keine interessanten Kunstwerke.
»Die
Kleider befinden sich im Rechtsmedizinischen Institut«, erklärte die Frau von
der Telefonzentrale. »Also im Reichshospital in Oslo.«
»Ach
ja?«, sagte ich und versuchte, nicht zu einfältig zu wirken. »Warum das denn?«
»Das
ist so üblich, wenn der Verdacht besteht, dass ein Verbrechen vorliegen
könnte. Das Auto scheint von diesem Lastzug vorsätzlich gerammt worden zu sein.«
»Verstehe«,
sagte ich. »Vermutlich haben sie mich deshalb um Hilfe gebeten. Ich wohne in
Oslo, wissen Sie.«
Die
Frau antwortete nicht. Ich konnte förmlich sehen, wie sie die Augen verdrehte
und mit ihren sorgfältig lackierten Fingernägeln ungeduldig auf die Tischplatte
trommelte. Aber vielleicht irrte ich mich auch. Headhunter zu sein, bedeutet
nicht notwendigerweise, dass man über Menschenkenntnis oder besondere Empathie
verfügt. Möglicherweise sind diese Eigenschaften sogar hinderlich, wenn man es
in dieser Branche bis ganz nach oben schaffen will.
»Können
Sie dem Zuständigen in der Rechtsmedizin sagen, dass ich jetzt auf dem Weg
dorthin bin?«, fragte ich. »Mein Name ist Runar Bratli.«
Ich
hörte ihr Zögern. Vermutlich stand so etwas nicht in ihrem Arbeitsvertrag. Die
Arbeitsverträge im öffentlichen Dienst sind in der Regel schreckliche
Machwerke. Glauben Sie mir, ich muss sie ständig lesen.
»Ich
habe nichts damit zu tun, ich will nur helfen«, sagte ich. »Ich gehe davon aus,
dass jemand mich empfängt, damit ich die Sache schnell über die Bühne bringen
kann.«
»Ich
werde es versuchen«, meinte sie.
Ich
legte auf und wählte die zweite Nummer. Er antwortete beim fünften Klingeln.
»Ja?«
Seine Stimme klang ungeduldig, fast verärgert.
Ich
versuchte aus den Hintergrundgeräuschen herauszuhören, wo er sich befand. War
er in meinem Haus oder in seiner Wohnung?
»Buh«,
sagte ich, dann legte ich auf.
Damit
war Clas Greve alarmiert.
Ich
wusste nicht, was er tun würde, sicher aber schaltete er jetzt seinen
GPS-Tracker ein, um zu überprüfen, wo der Geist sich befand.
Ich
ging zurück zum Schlafzimmer und blieb auf der Schwelle stehen. Im Dunkeln
erkannte ich nur die Kontur ihres Körpers unter dem Laken. Ich widerstand dem
plötzlichen Impuls, mich auszuziehen, unter das Laken zu schlüpfen und mich
an sie zu schmiegen. Stattdessen spürte ich dem seltsamen Gefühl nach, dass es
bei all dem, was passiert war, nicht um Diana gegangen war, sondern um mich.
Ich schloss die Schlafzimmertür leise und verließ die Wohnung. Wie bei meinem
Kommen hatte ich das Treppenhaus auch jetzt ganz für mich allein, so dass ich
niemanden grüßen konnte. Auch als ich auf die Straße trat, erwiderte niemand
mein freundliches Nicken. Niemand sah mich oder bestätigte anderweitig meine
Existenz. Inzwischen hatte ich begriffen, was dieses Gefühl eigentlich
bedeutete: Ich existierte einfach nicht.
Es
war an der Zeit, wieder ins Leben zu treten.
Das
Reichshospital liegt an einem der zahlreichen Hänge oberhalb von Oslo. Bevor es
gebaut wurde, befand sich an der gleichen Stelle eine kleine Irrenanstalt, die
später in Nervenheilanstalt
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