Heartless 03 - Lockruf des Herzens
gleichen Leichtigkeit in die Lüfte erheben und einfach davontreiben könnte. Er würde aufsteigen, die Stadt hinter sich lassen und aufs Land zurückkehren, wo der Himmel blau statt grau war. Er würde dieses Haus verlassen, wo niemand ihn wollte. Wo die Leute ihn anstarrten und miteinander tuschelten. Obwohl Reggie und Maude nett zu ihm waren, bewahrten sie doch Distanz wie alle anderen.
Die Dame, Miss Whitney, war die Netteste von allen. Sie kam jeden Abend in sein Zimmer hoch, nur um nach ihm zu schauen. Sie hatte immer noch keinen Geist gesehen, aber sie sagte, dass sie nach wie vor Ausschau hielte. Sie war jünger als seine Mutter und hübscher. Bei diesem Gedanken fühlte er sich etwas schuldig, obwohl es die Wahrheit war.
Er vermisste seine Mutter. Doch nicht seinen Vater. Ihm hatte es Chris nie recht machen können, egal wie sehr er sich auch bemühte. Häufig hatte Papa zu viel getrunken, und in diesen Momenten hatte er richtig gemein sein können.
Chris trat nach einem Kieselstein, als er den Weg entlangwanderte. Er wusste, dass er dankbar sein sollte, hier zu sein. Als Waisenkind hätte ihm das Schicksal blühen können, auf der Straße zu hungern oder gezwungen zu sein, heiße, verqualmte Schornsteine hochzuklettern und sich dabei die Finger zu verbrennen, wie er es bei einigen Jungs auf der Straße gesehen hatte.
Trotzdem dachte er manchmal, dass er lieber da draußen auf sich allein gestellt wäre, als in diesem schicken Haus zu wohnen, das einem Mann gehörte, der jedes Mal, wenn sie sich zufällig begegneten, so tat, als würde er ihn nicht sehen. Chris tat sein Bestes, um ihm aus dem Weg zu gehen.
Heute Morgen hatte er gesehen, wie der Graf wegritt, wie er es fast jeden Tag machte. Da er also wusste, dass er nicht da war, beschloss er, einen kleinen Streifzug zu machen, um zu sehen, ob es hier etwas zu entdecken gab.
So stieß er auf den kleinen Glasschuppen hinter den Stallungen. Durch die beschlagenen Fenster konnte er Kondenstropfen an den Scheiben sehen und im Hintergrund die undeutlichen Umrisse von Pflanzen. Nachdem Chris noch einmal um sich geschaut hatte, ob ihn auch wirklich niemand sah, öffnete er die Tür und schlüpfte hinein.
Einen Augenblick lang stand er einfach nur da und staunte über den Schatz, auf den er gestoßen war - überquellende Blumentöpfe mit den schönsten Blumen, die er je gesehen hatte. Einige hatten gekräuselte weiße und lilafarbene Blütenblätter, andere wiesen ein ebenmäßiges dunkles Rosa auf. Es gab gelbe Blumen, die so hell waren, dass es in den Augen schmerzte, wenn man sie ansah.
Der Raum war warm und unangenehm feucht, aber der Anblick machte das wieder wett. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Schönes gesehen. Er fragte sich, ob die Blütenblätter wohl genauso weich waren, wie sie aussahen, und konnte nicht widerstehen, eines davon zu berühren.
»Was zum Teufel machst du hier drin!« Die donnernde Stimme des Grafen schnitt wie ein Messer durch ihn hindurch. Er wirbelte herum, doch er blieb an einem Ziegel hängen, sodass er die Balance verlor. Er streckte die Hand aus, um sich irgendwo festzuhalten, und stieß dabei gegen eine der wunderschönen weißen Blumen. Der Topf geriet ins Wanken und fiel um. Chris wich zurück und drückte sich in eine Ecke. Sein Magen war so verkrampft, dass es wehtat.
»Jetzt schau nur, was du angerichtet hast!«
Er zitterte, während er zusah, wie der Graf sich hinkniete, die Pflanze ganz vorsichtig hochnahm, sie wieder in ihren Topf tat und die Erde festdrückte.
Unglücklicherweise war eine der Blüten beim Sturz abgebrochen. Chris kniete sich hin und legte die Blüte vorsichtig in seine Hand, um sie dem Grafen dann hinzuhalten. »Es tut mir Leid. Ich wollte sie nicht abbrechen.«
Blackwood achtete nicht auf die ausgestreckte Hand. »Daran hättest du denken sollen, bevor du hier hereingekommen bist. Die Blüte ist endgültig hin. Die kann man nicht wieder dranmachen.«
Die Blume zitterte in Chris' Hand. Er legte sie ganz behutsam neben den schwarzen Stiefel des Grafen. Als er sich der Tür zuwandte, schaute Chris sich noch einmal um. »Solche Blumen habe ich noch nie gesehen.«
»Das liegt daran, dass sie in diesem Land nicht wachsen. Es sind Orchideen. Sie gedeihen nur in tropischen Gegenden in anderen Teilen der Welt.«
»Orchideen«, wiederholte Chris mit unverhüllter Ehrfurcht.
Blackwood, der seine Blumen untersucht hatte, schaute auf, wobei eine seiner geschwungenen schwarzen
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