Heaven - Stadt der Feen
es fest, zerkrümelte es zwischen den Fingern. Dann erhob sie sich wieder, trat einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, flüsterte sie mit bebender Stimme und betrachtete die dunkle Erde in ihrer Hand, als könne sie ihr Antworten geben. »Ich habe euch nie besucht.« Sie schluckte. »Aber ich habe an euch gedacht. Das tue ich andauernd.«Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Ich vermisse euch so.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. Dann stampfte sie wütend mit dem Fuß auf den Boden. »Scheiße, was mache ich hier eigentlich?« Sie funkelte David an, dann wieder das Grab ihrer Eltern, war verzweifelt, durcheinander. Wütend schleuderte sie die Erde zurück auf das Grab.
David legte ihr eine Hand auf die Schulter, drehte sie sanft zu sich um. Dann umarmte er sie, hielt sie einfach nur fest, bis sie ruhiger wurde und schweigend ihre Arme um ihn schlang.
So standen sie eine Weile da.
Die Steinskulpturen neben ihnen starrten aus kalten Augen in die Nacht.
Dann brach sich eine Stimme im Wind.
»Du bist gekommen«, sagte die Stimme.
Erschrocken löste sich Heaven aus der Umarmung. Auch David zuckte zusammen. Beide schauten sich um.
»Hast du das auch gehört?«, fragte Heaven.
David spähte in die Schatten und nickte wachsam. »Da ist jemand.« Was für eine blödsinnige Bemerkung.
»Ich bin hier«, sagte die Stimme, die wie Raureif am Morgen klang und sich anscheinend gar nicht verbergen wollte.
Beide wendeten ruckartig die Köpfe.
Die Frau stand direkt hinter ihnen. Sie trug ein Kleid, das bis zum Boden wallte. Ihre nackten Füße lugten darunter hervor. Lange Haare fielen ihr bis über die Schultern.
Heaven öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Wer sind Sie?«, fragte David.
Die Erscheinung musterte ihn interessiert und David dachte daran, wie sehr er sich als Kind vor Geistern gefürchtethatte. Nie hätte er geglaubt, jemals einem zu begegnen. Doch die Erscheinung sah aus wie einer. Im Film müsste er jetzt etwas Geistreiches sagen, etwas wie »Ich glaube nicht an Geister, aber die Frau, die da steht, sieht aus wie ein Geist, sie bewegt sich wie ein Geist und sie redet wie ein Geist, also können wir uns darauf einigen, dass es Geister gibt, auch wenn ich nicht an sie glaube«.
Und Heaven schien das, was sie gerade erblickten, als das zu akzeptieren, wonach es aussah. Das ist es immerhin meistens. Warum sich also Gedanken machen?
»Wer sind Sie?«, fragte nun auch Heaven.
Die Erscheinung lächelte freundlich. »Oh, das ist eine lange Geschichte«, sagte die Frau, denn das war die Erscheinung, sie war eindeutig weiblich, wenngleich ein wenig durchsichtig und filigran. »Ich bin nicht deine Mutter.« Sie trat näher. »Aber du bist es, ja?« Ihr Gesicht war bleich wie das Licht des Mondes. »Du bist Heaven, Heaven Mirrlees, die eigentlich Freema heißt. Und du bist hier, weil dir dein Vater gesagt hast, dass du deine Eltern immer besuchen kannst, wenn du es willst.«
Benommen nickte Heaven. David spürte, wie der Griff ihrer Hand in seiner fester wurde.
»Dein Vater hat nicht geahnt, dass er so früh sterben würde. Und er ist leider nicht hier, um es dir selbst zu sagen, aber das ist eine andere Geschichte.«
»Wer sind Sie?«, fragte David, jetzt deutlich energischer als noch vorhin.
»Ich heiße Sarah Jane Cavendish«, sagte die Frau.
»Was tun Sie hier?«
»Ich bin tot.«
»Sie sind ein Geist, stimmt’s?« David kam sich komisch vor, die Frage genau so zu stellen.
»Das hier ist mein Grab«, antwortete sie.
»Unsinn. Das ist das Grab meiner Eltern.« Heaven hatte ganz spontan geantwortet, Wut schwang in ihrer Stimme mit. Ob Geist oder nicht, die Frau hatte nichts im Grab ihrer Eltern zu suchen, so einfach war das.
Der Geist nickte leicht. »Ich weiß, das sollte es sein. Aber die Gesetze verlangen nun mal, dass derjenige in einem Grab lebt, der dort begraben liegt.« Sie war hübsch, eine Frau in den Vierzigern mit ungewöhnlich langem Haar und einem Gesicht, das bestimmt gerne gelacht hatte, früher einmal. »Nichts hätte ich mir sehnlicher gewünscht als ein Grab, auf dem mein richtiger Name steht. Aber den kannte niemand. Zu meinem Begräbnis sind nur fremde Gesichter erschienen. Sie haben um jemand anderes getrauert und ich habe mich allein und ganz schrecklich gefühlt.« Sie blickte zu den Sternen hinauf und David stellte fest, dass sich in ihren Augen kein Spiegelbild brach. »Die Toten reflektieren kein Leben mehr«, sagte sie, als sie seinen
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