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Heaven - Stadt der Feen

Heaven - Stadt der Feen

Titel: Heaven - Stadt der Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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an Kinder. Doch dann sah ich ihn mit einer anderen.« Ihr Lachen wurde bitter. »Ich habe euch gewarnt, es ist keine besonders originelle Geschichte.« Sie stützte sich mit beiden Händen auf den Grabstein. »Sie saßen an einem Fenster im
Equinox
und ich sah sie dort, weil ich zufällig vorbeikam.« Sie stockte. »Ich weiß nicht einmal, ob er mich gesehen hat.« Schnell verbesserte sie sich. »Nein, ich bin sogar sicher, dass er mich nicht gesehen hat. Er hat mich nicht einmal zur Kenntnis genommen. Ich bin weggerannt.« Sie schlug mit den Fäusten auf den Grabstein und die Luft um sie herum fauchte auf. »Wie dumm von mir, ich hätte ihm eine Szene machen sollen. Hey, ich war ein Mädchen aus Chiswick, das hätte ich doch richtig gut gekonnt. Aber ich habe es nicht getan. Stattdessen lief ich durch die Stadt. Weinte, fluchte, die ganze Palette. Dann ging ich in ein Pub irgendwo in der City und fing zu trinken an. Hartes Zeug, das einem das Bewusstsein lähmt und die Erinnerungen tötet, alle, wennmöglich. Ich wollte vergessen. Ewan. Mich selbst. Chiswick. Tesco. Und vor allem das Leben, das ich mir ausgemalt hatte.« Ganz fest packten ihre Hände den Grabstein. »Dann ging ich runter zum Embankment. Ich stand lange dort, wo die Schiffe liegen, und schaute in die Fluten. Sie waren tiefschwarz in dieser Nacht und es spiegelte sich kein einziger Stern in ihnen.«
    David sah in die Höhe, hinüber zu dem Loch über der City und fragte sich, wie es damals wohl ausgesehen hatte. Früher hatte sich die Leere bis nach Kensington gestreckt, doch er kannte nur Filme und Fotos davon, wie jeder in seinem Alter.
    »Ihr seid zu jung dafür«, sagte Sarah Jane. »Aber ich kann mich noch daran erinnern, wie die Nacht über London ausgesehen hat, als ich klein war. An all die Sterne, den Himmel, die Wolken. Doch dann waren sie verschwunden. Zwei Jahre vor meinem Tod. Ich hab mich zu Lebzeiten nie daran gewöhnt.« Sie sah Heaven an, als wollte sie ihr etwas sagen. Doch dann kehrte sie zum Ende ihrer Geschichte zurück. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »ich stand am Themseufer und dann kippte ich einfach vornüber.« Wieder dieses Heulen, das ein Lachen sein sollte. »Ich war betrunken. Ich ließ es einfach geschehen. Einfach so, es war egal. Ich fiel in die Themse und spürte sofort den Sog an meinen Kleidern. Ich wurde von der Strömung erfasst und hinausgezogen, in die Mitte des Flusses. Es war November und es hatte in den Tagen zuvor viel geregnet, die Themse hatte Hochwasser. Ich wurde weiter und weiter gespült, ging unter, schnappte nach Luft, begann zu schwimmen, trieb an den Brücken vorbei und niemand bemerktemich.« Die Erinnerung war wie eine welke Blume, an der sie nie zu riechen aufhören würde. »Die Stadt sah wunderschön aus, mit all ihren Lichtern. Sie glitten an mir vorbei, und das war der Moment, in dem ich mein Verhalten bereute. Es war so seltsam, ich spürte das Leben in all seiner Pracht und ich hatte es weggeworfen wegen diesem Idioten, der gerade mit einer anderen zusammen war. Ich sah diese Bilder der Stadt und die Schönheit, die in allem steckt, und da endlich wollte ich mich wieder ans Leben klammern, doch dann ging ich unter und alles wurde dunkel und schwarz.«
    David und Heaven sagten eine Weile gar nichts. Da war nur der Wind in den Ästen und die Schatten, die Geheimnisse für sich behalten konnten.
    »Das ist schrecklich«, war alles, was Heaven schließlich hervorbrachte.
    »Sie brachten mich ins Chelsea Hope. Aber ich war schon lange tot, als ich dort ankam. Meine Handtasche und die Papiere waren verschwunden, die Themse hatte sie fortgerissen. Sie nannten mich Jane Doe und banden einen Zettel mit diesem Namen an meinen Zeh. Das tut man mit Toten, deren Identität verloren ging.«
    »Wie ist es?«, fragte Heaven ernst.
    »Zu sterben?«
    Sie nickte.
    »Nicht schön«, antwortete Sarah Jane. »Man fühlt Schmerz und Reue.« Sie kam um den Grabstein herum, trat mitten ins Grab und berührte die Sträucher, die dort wucherten. »Am schlimmsten«, flüsterte sie, »ist das Gefühl, nicht vermisst zu werden. Niemand kommt und trauertum einen. Sie leben alle ihr Leben weiter und man merkt, wie das Vergessen an einem nagt.« Sie fasste sich ans Auge, als wolle sie eine Träne wegwischen. »Das ist es, wovor wir uns fürchten. Wenn niemand mehr an uns denkt, dann sind wir wirklich tot. Das ist der letzte Tod, den wir sterben.«
    »Aber dann denkt doch noch jemand an Sie«, sagte David. »Wenn

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