Heavy Cross
meiner Mutter gesehen. »Wenn ich jemals so fett werde, dann schlag mir den Keks aus der Hand«, hatte sie gesagt. Jetzt saà ich auf Jeris Wasserbett, starrte auf den Fernseher und sagte: »O Gott, sieh dir die Frauen an.«
»Wen interessiertâs?«, fragte Jeri, der selbst fett ist. »Wer sagt, dass jemand zu dick ist? Wieso muss das so sein?«
Jeri hatte Nomy Lamms Fanzine Iâm so Fucking Beautiful gelesen, in dem sie eine positive Einstellung gegenüber dem Dicksein vertritt. Viele von Jeris Fanzines kamen aus der feministischen Subkultur. Allmählich drang die Idee zu mir durch, und irgendwann begann ich, das Wort »dick« positiv zu besetzen. Das lieà mich langsam verstehen, wie stark das Körperbild, das ich mit mir herumtrug, mein bisheriges Leben bestimmt hatte. Ich kam mir gar nicht wie eine richtige Sängerin vor. Richtige Sängerinnen hatten süÃe, sanfte Stimmen und klangen wie die beiden Mädchen von The Murmurs. Oder sie hatten schrille Punkstimmen, wie eine Cheerleaderin, die durchdreht, so wie Kathleen Hanna von Bikini Kill. Ich wollte klingen wie die Murmurs oder wie Kathleen Hanna, was jedoch beides nicht der Fall war. Ich hatte einfach eine ganz andere Stimme, die ich lange Zeit hasste, weil sie so konventionell klang. Ich war eine Streberin im Kirchenchor gewesen, und meine Stimme funktionierte bestens, wenn ich damit Jesus, unseren Herrn und Erlöser, lobpreiste. Aber im Dienste von Punkrock hörte sie sich in meinen Ohren völlig daneben an.
Rückblickend ist das wirklich lustig. Als Gossip die ersten Kritiken bekamen, zeigten sich die meisten Autoren beeindruckt: Eine Punksängerin, die singen kann! Aber damals hasste ich meine Stimme. Ich war ein dickes Mädchen und mein ganzes Leben lang dick und immer sehr laut gewesen. In einem Zimmer voller aufgeregt sprechender Menschen war garantiert ich diejenige, die Ãrger bekam, weil sie zu laut war. Aus diesem Grund versuchte ich oft, mich kleiner zu machen. Wenn mein Körper schon so groà war, dann konnte ich das vielleicht mit meiner Stimme ausgleichen, konnte leiser sein, liebreizender, angenehmer und kultivierter. Meinen Körper konnte ich lieben, aber durch den Druck, der auf mir lastete, mochte ich meine laute, wilde Stimme nicht. Es machte mich wahnsinnig, dass ich den zarten Kleine-Mädchen-Sound der anderen nicht hinbekam. Auf dem Tape, das Nathan von Little Miss Muffet verkaufte, klang ich gequält und versuchte hörbar, die groÃe kräftige Stimme, die mir geschenkt wurde, zu ersticken und zurechtzustutzen.
Mit sechs Jahren hatte ich mit dem Singen angefangen und immer gedacht, dass ich Sängerin werden würde. Erst als ich älter war, dachte ich, ich wäre zu fett, um meinen Lebensunterhalt als Sängerin zu verdienen. Wenn man aussieht wie ich, wird man nicht Sängerin. Ich wollte mir die Enttäuschung ersparen. Ich dachte, ich würde Krankenschwester werden, wie meine Mom. Als ich merkte, dass ich meinen Babyspeck behalten würde, fing ich an, meinen Körper so zu akzeptieren, wie er war, wobei ich aber offensichtlich die Einzige war. Als Kind durfte ich keinen Bikini anziehen. Ich wurde »Breitarsch« genannt, weil ich immer einen dicken, flachen Hintern hatte, und so ein Arsch hätte in einem Bikini nichts zu suchen. Ich hatte nichts dagegen, ein seltsames Kind oder eine Tagträumerin zu sein. Und dass ich dick war, gehörte offenbar einfach dazu. Verletzend war nur die Tatsache, dass sich andere Leute für mich schämten. Später bekam ich immer wieder von Freundinnen zu hören: »Du hast so ein hübsches Gesicht. Wenn du nur abnehmen würdest, könntest du so gut aussehen!« Meine Mutter war ständig auf Diät und schämte sich mindestens so sehr für mich wie für sich selbst. Mom fand sich immer hässlich, und mir kam es seltsam vor, dass sie uns Kindern gegenüber, die wir alle genauso aussahen wie sie, andauernd davon sprach, wie hässlich sie war. Wie konnte sie das tun und gleichzeitig erwarten, dass es ihren Kindern nicht genauso erging wie ihr selbst? Inzwischen weià ich, dass sie unter einer gestörten Selbstwahrnehmung leidet, sie hat eine eigenartige Vorstellung von ihrem Aussehen. Aber als ich klein war, setzte mir ihr Gerede sehr zu.
Als ich älter war, konnte ich sagen: »Mom, ich will nichts davon hören.« Und sie hörte auf, doch bei sich selbst und
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