Heavy Metal (German Edition)
„Was können wir denn für Sie tun, Herr Kommissar?“ Bevor Kamphaus antwortete, grätschte Margot Wenisch dazwischen: „Das Annas Leichnam heute freigegeben wird, haben wir ja telefonisch schon erfahren. Schön, dass es so schnell ging“. Während sie sprach, versuchte sie nervös mit ihren Fingern eine störrische Falte auf der gestreiften Wachstischdecke zu glätten. Kamphaus nahm einen Schluck Kaffee. Er schmeckte sogar wie bei seinen Eltern.
„Geht es Ihnen denn den Umständen entsprechend wieder besser, Frau Wenisch?“, erkundete er sich zunächst.
„Ja, sicher. Es tut mir leid, dass ich Ihnen und Ihrem Kollegen vorgestern solche Mühe bereitet habe, der Schock ...“
„Ach was – wir sind doch froh, dass Ihr Sturz so glimpflich verlaufen ist. Gut, also ich wollte ihnen nur mitteilen, dass wir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass Ihre Tochter den Freitod gewählt hat. Auch wenn die Ermittlungen hierzu noch nicht ganz abgeschlossen sind“.
„Wieso, was meinen Sie mit nicht ganz abgeschlossen?“ Gerd Wenisch schaute irritiert.
„Wie gesagt, es ist höchstwahrscheinlich. Aber wir werden natürlich noch so gut es geht versuchen, ein Fremdverschulden ganz und gar auszuschließen. Wenn das auch schwierig wird.“
„Tun Sie nur Ihre Arbeit“, erwiderte Margot Wenisch und blickte dabei zur Anrichte im Wohnzimmer hinüber, auf der nach wie vor Annas Fotos standen, jetzt allerdings mit einem Trauerflor versehen. „Aber unsere Tochter ist niemals ermordet worden, von wem denn auch? Ach, Herr Kamphaus, wie geht es denn dem Fahrer des BMW?“
„Leider immer noch im Koma, aber wohl außer Lebensgefahr. Es steht überhaupt nicht fest, ob und wenn ja wann wir ihn befragen können“.
„Schrecklich!“ Die Finger der Hausfrau flogen immer hektischer über die Muster der Tischdecke.
Kamphaus antwortete nicht, sondern kramte in seiner Jackentasche herum, brachte den Schlüsselbund zutage und legte ihn in die Mitte des Tisches. „Gehörte der hier Ihrer Tochter?“ Gerd Wenisch nahm ihn an sich und betrachtete den schmucklosen Ring mit den beiden Schlüsseln. „Ja, ich denke schon. Doch, dass müsste er sein“. Er übergab ihn an seine Frau, die sofort aufstand und damit zur Haustür ging. Kamphaus verfolgte sie mit seinen Augen.
„Ja, der passt“, sagte sie und kehrte zum Esstisch zurück. „Früher hatte sie immer noch ein kleines Stofftier daran hängen, so ein Schaf. Aber wahrscheinlich war ihr das langsam zu kindisch. Ich habe den Schlüssel auch länger nicht mehr gesehen, sie hat ihn nie auf die Kommode im Flur abgelegt“.
„Gut“, sagte Kamphaus, „dann wissen wir das. Den Bund fanden wir oben auf der Autobahnbrücke. Aber das sie sich dort oben befunden hatte, konnten wir ja schon durch die Fingerabdrücke zweifelsfrei nachweisen“.
Beide Elternteile sahen auf die Tischmitte und kneteten ihre Hände. Er trank noch einen Schluck Kaffee und unterbrach die ihm unangenehme Stille wieder. „Wenn ein Abschiedsbrief oder ähnliche Hinweise aufgetaucht wären, hätten Sie uns sicherlich angerufen ...“
„Ja“, Gerd Wenisch sah vom Tisch auf, direkt in die Augen des Kommissars. „Natürlich. Aber nichts. Wir können es uns einfach nicht erklären. Ich habe auch ihr Zimmer durchsucht und alles. Aber nichts.“
„Apropos, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich auch noch schnell einen Blick in Annas Zimmer werfen könnte?“
„Nein, natürlich nicht“, Gerd Wenisch erhob sich recht abrupt von seinem Stuhl und machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Flures, wo eine Holztreppe in den ersten Stock führte. Seine Frau blieb still am Tisch sitzen und nickte nur. Oben angekommen, ging eine weitere, weitaus schmalere Treppe direkt unters Dach, die der Mann, Kamphaus hinter sich, in Angriff nahm.
„Wir haben ihr letztes Jahr das Dachgeschoss ausgebaut. Ein Teenager braucht ja viel Zeit und Ruhe für sich, dachten wir. Vielleicht war es ein bisschen zu viel Freiraum, wer weiß“.
Kamphaus sagte nichts und trat hinter Gerd Wenisch auf den Laminatboden in Annas Reich. Alles wirkte so, als sei sie eben erst irgendwohin aufgebrochen. Das Bett war zerwühlt, Schmutzwäsche lag auf einem Ikea-Sessel, dessen Modell er selbst im Wohnzimmer stehen hatte, sogar das Fenster war gekippt. Der penetrant-blumige Geruch von blühendem Raps lag in der Luft, vermengt mit einem Hauch von Patchouli, einem Duftöl, dass er noch aus seiner eigenen Jugend
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