Heidelberger Lügen
ein Technologiekonzern war, der weltweit mehr als zwölftausend Angestellte hatte. Die Zentrale befand sich in Paris.
Das Heidelberger Betriebsgelände lag in einem kleinen Industriegebiet am östlichen Rand von Kirchheim, nahe der Bahnlinie und nur wenige hundert Meter von McFerrins Wohnung entfernt. Ich saß auf einer unbequemen cremefarbenen Ledercouch im zugigen Eingangsbereich eines wenig repräsentativen Verwaltungsgebäudes und wartete darauf, dass jemand mit mir sprach. Die Sonne hatte sich inzwischen wieder verzogen, draußen trieb ein kalter Wind vereinzelte Schneeflocken über den asphaltierten Platz, auf dem ein roter Lkw mit Anhänger herumrangierte. Der Fahrer schien ein Anfänger zu sein. Die Rufe der zwei Männer, die ihn einwiesen, wurden von Minute zu Minute aggressiver. Es roch nach einem scharfen Putzmittel. Ich legte den Prospekt beiseite und nahm mir die Zeitung, die auf dem niederen, weiß lackierten Tisch mit Chrom-Beinen lag. Auf der ersten Seite wurde die Frage diskutiert, ob der plötzliche Wintereinbruch eine drohende Eiszeit ankündigte.
Die zierliche Schwarzhaarige hinter ihrem ausladenden Schreibtisch suchte immer noch einen Gesprächspartner für mich. Der Geschäftsführer war nicht zu sprechen, hatte sie mir erklärt. Er war in Paris und würde erst am Montag wieder im Haus sein. McFerrins direkter Vorgesetzter, ein Doktor Unterweger, war nirgendwo aufzutreiben. Ein Kollege schließlich, mit dem McFerrin das Büro geteilt hatte, war seit Anfang der Woche in Urlaub. Die Frau wurde von Minute zu Minute wütender. Plötzlich legte sie mitten im Satz auf, lief zur Tür und schrie gegen den kalten Wind einem Mann nach, der draußen in wehendem weißem Kittel über den Hof lief. Sekunden später stand er schwer atmend vor mir. Doktor Unterwegers Händedruck war Vertrauen erweckend, die schlanke Hand eiskalt.
»Was für ein Wetter«, keuchte er. »Erst dieser Regen, dann Sonne, und jetzt kriegen wir wohl auch noch Schnee. Man könnte glauben, es ist April.«
Natürlich hatte er schon vom gewaltsamen Tod seines Untergebenen gehört. Seine Miene wurde finster, als ich darauf zu sprechen kam. »Eine Katastrophe! Dean war ein guter Mann.«
Ich schätzte Unterweger auf Mitte fünfzig. Er war fast so groß wie ich, schlank, nachlässig gekleidet und für die Jahreszeit zu braun gebrannt. Wie ich seiner Visitenkarte entnahm, war er Leiter der Entwicklungsabteilung.
»Was hat Herr McFerrin hier gearbeitet?«
»Dean war mein Spezialist für Hardware, die Elektronik. Wird sehr schwer sein, ihn zu ersetzen. Sehr schwer.« Gehetzt fuhr er sich über die Stirn, sah auf die Uhr. »Wir haben Projekte, Termine, ich weiß noch gar nicht, was jetzt werden soll. Wir haben aber auch ein Pech zurzeit. Gute Ingenieure sind so schwer zu bekommen und noch schwerer zu halten, trotz der vielen Arbeitslosen. Fünf Leute hatte ich letzte Woche, jetzt noch vier. Allesamt Spezialisten auf ihrem Gebiet, aber jeder für ein anderes, nicht zu ersetzen. Nicht zu ersetzen. Eine Katastrophe!«
Er wandte sich an die Frau, die zwei Schritte abseits stand und mit gelangweilter Miene zuhörte. »Haben Sie Meyers endlich erreicht?«
Sie hielt seinem Blick stand. »Ich arbeite dran. Er ist Ski fahren, habe ich inzwischen rausgefunden. Irgendwo in Österreich.«
»Das hätte ich Ihnen auch sagen können!«, fuhr er sie an. »Er hat ja seit Wochen von nichts anderem geredet. Die Frage ist, wo, verflucht noch eins! Sehen Sie zu, dass Meyers rankommt! Ich brauche jetzt jeden Mann, verstehen Sie? Jeden! Urlaub ist gestrichen!«
Sie blitzte ihn kampfeslustig an, gönnte ihm jedoch keine Antwort. Durch die halb offen stehende Glastür pfiff der Wind herein.
»Was sind das für dringende Projekte, an denen Ihre Leute arbeiten?«
»Das …« Unterwegers Blick wurde unsicher. »Das darf ich Ihnen leider nicht sagen. Betriebsgeheimnisse, Sie verstehen? Betriebsgeheimnisse.«
»Und wer hat die Befugnis, diese Geheimnisse zu lüften?«
»Die Geschäftsleitung. Ausschließlich die Geschäftsleitung.«
»Dürfte ich mir wenigstens McFerrins Arbeitsplatz ansehen?«
»Aber selbstverständlich!« Doktor Unterweger war sichtlich froh, mich auf diese Weise loszuwerden. »Ich muss aber natürlich darauf bestehen, dass Sie nur persönliche Dinge mitnehmen. Frau Knorr, Sie wären doch so nett?«
Frau Knorr war keineswegs nett, aber es wollte ihr offenbar auf die Schnelle keine Ausrede einfallen. So lief sie mit eiligen kleinen Schritten
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