Heidelberger Lügen
ich die Oliven fast alleine verputzt. Die letzten beiden ließ ich als Anstandsrest liegen. »Er ist später mitten in der Nacht abgereist.«
Lorentz gehörte zu den Menschen, die keine Eile haben. Normalerweise macht es mich wahnsinnig, bei einem Gespräch auf jede Antwort warten zu müssen. Hier war es anders. Schon nach wenigen Minuten hatte seine behäbige Art begonnen, auf mich abzufärben. Die ruhige Stimmung in diesem Haus, die Aussicht auf die scheinbar so friedliche alte Stadt dort unten, der Geruch des Tabaks, der erstklassige Wein – all dies hatte rasch dazu geführt, dass die Anspannung von mir abfiel, dieser Drang, ständig auf die Uhr zu sehen und zu überlegen, was ich gerade versäumte.
»Es war eine wirklich grauenhafte Nacht«, sagte Lorentz endlich. »Gegen zehn begann es zu donnern, später hat es geschüttet, als sollte die Welt untergehen. Zudem haben uns die Audi-Leute auf Trab gehalten. Es war ihr letzter Abend, sie hatten eine Weinprobe im Gewölbekeller gebucht, und die meisten waren später sturzbetrunken. Für einen mussten wir sogar den Arzt rufen. Und als sie gegen zwölf endlich in ihren Betten waren und ich Feierabend machen wollte, ist auch noch der Strom ausgefallen. Eine Dreiviertelstunde saßen wir bei Kerzenschein. Anschließend versuchte ich, den Computer wieder zum Leben zu erwecken, weil diese Vandalen am nächsten Morgen zeitig abreisen wollten. Nur deshalb war ich überhaupt noch an der Rezeption, als unsere Hübschen die Flucht ergriffen.«
»War jemand hinter den beiden her?«
»Das nun nicht. Aber ich habe im Lauf der Jahre nicht selten erlebt, dass ein Paar freudestrahlend eincheckt und das Haus wenige Stunden später eilig wieder verlässt.«
»Sie meinen, sie haben sich zerstritten?«
Unten auf der Straße hielt ein Auto, Augenblicke später trat eine junge Frau ein. Sie trug ein dunkles, langes Kleid, üppige, feuerrote Locken und bewegte sich mit schnörkelloser Anmut. Sie stellte ein Cello neben der Haustür ab, küsste Lorentz auf die Stirn, lächelte mir still zu, ohne mich wirklich zu sehen, und verschwand.
»Ihre Tochter?«, fragte ich.
»Maria. Meine Lebensgefährtin«, antwortete er, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass ein Mann in den Sechzigern, der zudem keineswegs ein Adonis ist, mit einer höchstens halb so alten Schönheit zusammenlebt.
»Sie verstehen wirklich zu leben«, meinte ich anerkennend.
»Danke«, erwiderte er strahlend. »Das ist das schönste Kompliment, das ich seit langem gehört habe.« Nach einer seiner ausgedehnten Pausen fuhr er ernsthaft fort: »Was ist es denn, was uns jeden Tag aufs Neue davon abhält, uns das Leben zu nehmen? Schöne Frauen, gutes Essen, alter Wein. Fehlt etwas?«
»Kinder«, ergänzte ich spontan, und von dieser Sekunde an nannte ich ihn in Gedanken Lorenzo.
Er senkte den Blick. »Dazu hat mir leider zeit meines Lebens der Mut gefehlt«, sagte er nach einiger Zeit. »Ich bewundere Menschen, die diese Verantwortung nicht scheuen. Man muss seinen Platz in der Welt gefunden haben und sich seiner sicher sein, bevor man andere Menschen ins Leben führen kann. Ich selbst habe diese Sicherheit nie gefunden.«
Ich musste an einen Satz in dem Buch denken, das ich zurzeit las: »Wer das Richtige sagt, braucht nicht gut auszusehen und darf sich Zeit lassen.« Jetzt erst meinte ich zu verstehen, was Sten Nadolny damit meinte.
Wir schwiegen. Auf der südlichen Uferstraße raste ein Krankenwagen mit heulendem Martinshorn nach Westen, wo die Kliniken lagen.
»Die Frau ist also gleichzeitig mit Kriegel abgereist?«
»Nein, früher.« Sein Blick wanderte in die Ferne. »Ja, diese Frau. Etwas war mit ihr. Wenn mir nur einfallen würde, was. Nein, sie kam etwa zehn Minuten früher herunter. Ich wollte eben die Türe abschließen. Und sie hatte es wirklich auffallend eilig.«
»An den Namen können Sie sich nicht erinnern?«
Konzentriert stopfte er seine Pfeife. »Man müsste im Computer nachsehen.«
»Da war kein Name für Zimmer einundzwanzig eingetragen.«
»Dann wird sie eines der Opfer unseres Stromausfalls sein. Einige Datensätze sind uns damals verloren gegangen. Ein Drama am nächsten Morgen, als mir ein Drittel dieser Tagungsmeute in der Liste fehlte. Jeder hatte es eilig fortzukommen, und ich musste fast zwanzig Gäste neu aufnehmen, bevor ich sie ausbuchen konnte. Das sind diese Momente, in denen man den Beruf hassen lernt.«
»Sonst haben Sie ihn geliebt?«
»Ich kann mir
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