Heidelberger Lügen
die er bei einem Konzert in Donaueschingen kennen gelernt hatte, wie sie sich später bei anderen Konzerten in München und Prag wiedertrafen, um schließlich festzustellen, dass sie beide in Heidelberg wohnten.
»Bei Ihnen läuft keine Musik«, stellte ich fest. »Es ist so angenehm ruhig hier.«
»Musik ist für mich etwas Heiliges«, erwiderte er ernst. »Wenn ich Sherry trinke, dann trinke ich Sherry. Und wenn ich Musik höre, dann höre ich Musik. Man soll die Dinge nicht vermischen.«
Eine Weile hingen wir beide unseren Gedanken nach. »Die Küche«, murmelte er plötzlich, erhob sich mit ungewohnter Eile, ergriff seinen Stock und bewegte sich so rasch, wie es seine kranken Gelenke erlaubten. »Sie entschuldigen mich bitte.«
Als Vorspeise servierte Lorenzo eine leichte Suppe mit Gemüsestreifen und viel Knoblauch, als Hauptgang Lammfilets mit Thymiansauce und noch mehr Knoblauch. Wir aßen schweigend. Lorenzo lobte den Bordeaux. Er kaute jeden Bissen so lange, als würde er das Gericht zum ersten Mal kosten. Plötzlich wünschte ich mir, kochen zu können. So wie Lorenzo. Vielleicht sollte ich mich einmal nach einem Anfängerkurs in der Volkshochschule erkundigen.
»Ich wundere mich ein wenig, Herr Gerlach«, sagte Lorenzo mit verschmitztem Lächeln, als er seinen Teller leer gegessen hatte. »Ich hatte erwartet, dass Sie mir viele Fragen stellen.«
»Sie meinen, wenn Ihre Berufskrankheit die Diskretion ist, dann ist die meine die Neugier? Was möchten Sie denn gerne gefragt werden?«
»Nun … Ich wundere mich nur.«
Ich legte die schwere Damast-Serviette auf den Tisch. »Ihr vollständiger Name ist Horst-Heinrich Lorentz. Sie sind 1943 geboren, und zwar hier, in diesem Haus. Ihr Vater war ein angesehener Professor für klassische Philosophie an der Universität, später sogar einige Jahre Dekan. Sie waren das einzige Kind Ihrer Eltern, und Ihre Mutter, die eine hervorragende Pianistin gewesen sein soll, hat Sie mit ihrer Liebe fast erdrückt. Später, nach einem selbstverständlich ausgezeichneten Abitur, haben Sie Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und noch einige andere brotlose Künste studiert. Sie waren zu diesem Zweck an der Sorbonne, später in New York und in Melbourne. Aber Sie fühlten sich weder zum Wissenschaftler noch zum Künstler berufen, sondern haben das Studium nach fünfzehn Semestern ohne Abschluss beendet und trieben sich anschließend mehrere Jahre in der Weltgeschichte herum. Fünfundsiebzig tauchten Sie dann plötzlich wieder in Heidelberg auf und begannen eine Lehre im Hotel Ritter, zum Schrecken Ihrer Eltern, vermute ich. Sie haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Sie auf die rechte Bahn zurückzubringen, was ihnen aber offensichtlich nicht gelang. Vor fünf Jahren starb Ihr Vater, vermutlich aus Gram wegen seines missratenen Sohns, zwei Jahre darauf Ihre Mutter. Nun gehört dieses Haus Ihnen und dazu ein Vermögen von schätzungsweise einer Dreiviertelmillion Euro. Wie und wo Sie es angelegt haben, habe ich nicht überprüft. Ein letztes bisschen Respekt vor der Privatsphäre haben wir dann doch.«
»Herr Gerlach«, sagte Lorenzo beeindruckt, »ich fürchte, Sie sind ein wirklich guter Polizist.«
»Der eine exzellente Sekretärin hat.« Freundlich prosteten wir uns zu.
Als Dessert hatte Lorenzo eine Weinschaumcreme gezaubert. »Nach einem Rezept meiner Mutter. Man muss ja nicht alles über Bord werfen, was einem die Eltern mit auf den Lebensweg geben.«
Er legte den Löffel zur Seite, lehnte sich seufzend zurück und sah zum funkelnden Kronleuchter hinauf.
»Irgendwann war ich an einem Punkt angekommen, wo ich fürchtete, mich am Ende auf einer Karriereleiter wiederzufinden, auf die ich niemals wollte. Sie haben Recht, ich habe vieles studiert, und selbstverständlich hatte ich damals Ziele, Pläne. Aber plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob es meine Ziele und meine Pläne waren, die ich verfolgte.« Er sah mir ins Gesicht. »Und da habe ich beschlossen, mir fünf Jahre Zeit zu geben um herauszufinden, was ich aus meinem Leben machen will. Was mir wirklich Spaß macht. Ich habe im Hafen von Athen Kisten geschleppt und in Marrakesch mit einem Gabelstapler Container auf Güterzüge geladen. Ein halbes Jahr spielte ich in Dublin Klavier, in einer sehr zweifelhaften Jazz-Bar. In Kalabrien fälschte ich später die Bücher eines überaus gewinnbringenden Weinguts, das dennoch unentwegt und auch heute noch EU-Fördermittel erhält. Einige Monate habe ich
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