Heidelberger Lügen
sogar in den Slums von Nairobi Kinder gegen Malaria geimpft und mich als Gutmensch erprobt.«
»Und als die fünf Jahre um waren?«
»Da war mir klar, dass ich mit Menschen zu tun haben möchte. Mit möglichst vielen, immer wieder neuen Menschen. Nichts befriedigt mich so sehr wie neue Bekanntschaften.«
Ich überlegte, ob dies auch auf mich zutraf. Ob ich aus diesem Grund Polizist geworden war. Und in gewisser Weise entsprach das der Wahrheit. Nur waren die sozialen Schichten, mit denen ich zu tun hatte, gemischter als die, die Lorenzo als Portier eines Luxushotels kennen lernte. Aber sie waren nicht weniger interessant und aufregend.
Später saßen wir satt und zufrieden im Wintergarten, und Lorenzo erzählte mir Anekdoten aus seinem unerschöpflichen Fundus. Ich erfuhr, dass er sogar eine Weile auf einem norwegischen Fischereischiff im Nordatlantik malocht hatte. Es schien nicht viele Erfahrungen zu geben, die dieser alte Mann nicht gemacht hatte.
An diesem Abend achtete ich darauf, wie viel ich trank, und verhinderte erfolgreich die Öffnung einer zweiten Flasche. Gegen zehn fuhr ich mit dem Wagen nach Hause und hoffte, dass mein Promillegehalt die magische Grenze nicht überstieg.
Die Wohnung fand ich leer. Ich erinnerte mich, dass Louise vorgehabt hatte, auch diesen Abend im Schwimmbad zu verbringen. Vermutlich war Sarah doch mitgegangen. Vielleicht sollte ich sie einmal begleiten? Auch Schwimmen soll gesund sein, und mit dem Joggen wollte es ja nicht so recht klappen.
Ich setzte mich ins Wohnzimmer, legte »Buena Vista Social Club« auf und nahm Theresas Buch in die Hand. Dabei wurde mir bewusst, dass ich nun schon ganz schön lange nichts von ihr gehört hatte. Es war ihr doch hoffentlich nichts zugestoßen? Sollte ich morgen unter irgendeinem Vorwand Liebekind anrufen und mich nebenbei nach der Gesundheit seiner Frau erkundigen? Aber nein. Unfug. Es war vorbei, und das war gut so.
Wenige Minuten nach mir kam Sarah. Sie wirkte deprimiert, grüßte kaum und verschwand in dem Raum, den ich seit neuestem nicht mehr Kinderzimmer nennen durfte. Erst nach Minuten fiel mir auf, dass sie keine Schwimmsachen dabei gehabt hatte. Überhaupt, dieser ungewohnte sportliche Eifer meiner Töchter – hier stimmte etwas nicht.
Ich klopfte an ihre Tür, und es dauerte lange, bis ich ein ersticktes »Ja?« hörte. Meine Erstgeborene, die siebenundzwanzig Minuten älter war als ihre Schwester, lag angekleidet auf dem Bett und hatte offensichtlich geweint.
»Erstens, du warst gar nicht im Schwimmbad, zweitens, wo steckt Louise? Und drittens, was ist überhaupt los? Warum weinst du?«
»Ich war wohl im Schwimmbad«, widersprach sie kraftlos. »Und wo Loui steckt, ist mir scheißegal. Und warum ich weine, geht dich nichts an.«
»Und was macht man, bitte schön, ohne Bikini und Handtuch im Schwimmbad?«
»Du hast wirklich von gar nichts eine Ahnung.« Seufzend rollte sie sich zur Wand.
Ich setzte mich auf die Bettkante und drehte ihren Kopf sacht in meine Richtung. Ihre Augen glitzerten feucht.
»Raus mit der Sprache, was ist?«, fragte ich in milderem Ton.
Erst sperrte sie sich noch, dann gab sie nach, legte ihren Kopf auf meinen Oberschenkel und kuschelte sich an mich.
»Ach Paps«, schniefte sie. »Woran merkt man eigentlich, dass man verliebt ist?«
Deshalb also das geheimnisvolle Getue, das Getuschel, die glänzenden Augen und verträumten Blicke. Daher die neue Mode, sich nicht mehr gleich zu kleiden. Ich streichelte Sarahs mageren Rücken, der noch nichts vom Körper einer Frau hatte. Ich sah zur Wand, auf Poster, welche junge Männer zeigten, bei denen ich im realen Leben ohne Zögern die Feststellung der Personalien veranlasst hätte. Ein Regal voller längst vergessener Püppchen und Bilderbücher. Die Gitarren, um die sie so lange gebettelt hatten und auf denen schon nach vier Wochen niemand mehr spielen mochte. Eine Kiefernholz-Kommode, die als Schminktisch diente. Wieder einmal fragte ich mich, wozu zwei heranreifende Mädchen ungefähr zwanzig Sorten Nagellack benötigten.
Wie erklärt man Kindern die Liebe? Mir wurde klar, dass ich keinen Schimmer davon hatte, wie viel meine Mädchen über dieses Thema wussten. Dass ich nicht nur Fälle aufzuklären hatte, sondern auch zwei Töchter. Wie viel mochten sie von Vera schon gehört haben? Was lernte man heute über dieses Thema in der Schule? Gab es Bücher? Ratgeber? Aufklären leicht gemacht? Wie sagt’s Papi seiner Tochter?
»Hast du schon mal ein
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