Heidelberger Lügen
Holthausen lachte lautlos. »Manchmal nimmt er die Dinge ein bisschen zu wörtlich.« Er erhob sich und trat an die wandhohe Glasfläche, die das Büro von der Kälte draußen trennte. Mit dem Rücken zu mir sprach er weiter: »Selbstverständlich mögen wir es nicht, wenn die Konkurrenz von unseren neuen Produkten erfährt, bevor sie auf dem Markt sind. Unser technologischer Vorsprung ist unser Kapital. Wenn die Amerikaner so weit sind wie wir, dann müssen wir schon wieder zwei Schritte voraus sein, sonst überfahren die uns einfach.« Er wandte sich um und sah mir ernst in die Augen. »Deshalb lassen wir unsere Ingenieure Erklärungen unterschreiben, bestimmte Papiere dürfen das Haus nicht verlassen, manche Dinge, wie Kameras oder Laptops zum Beispiel, dürfen nicht hereingebracht werden. Aber das klingt alles viel dramatischer, als es in Wirklichkeit ist. Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, haben wir nicht mal einen Werkschutz. Doktor Unterweger ist der typische Vertreter der mittleren Führungsebene. Ein Sandwich-Mann. Druck von oben, Druck von unten, und er mittendrin.«
Ich fühlte mit dem geplagten Entwicklungsleiter. Mir ging es in meiner Position ja genau so.
»Woran arbeitet also seine Abteilung zurzeit?«
Mit den Händen auf dem Rücken begann Holthausen, auf- und abzugehen. Ich setzte mich schräg auf meine Couch, um ihn im Auge zu behalten.
»Wir produzieren biochemische Analysegeräte. Geräte für die Biotechnik, die gentechnischen Labors weltweit. Aktuell arbeitet Unterwegers Abteilung am Gen-Sequenzer der nächsten Generation. Sagt Ihnen das was?«
»Leider nein.«
Holthausen schmunzelte. »Das tröstet mich. Mir nämlich auch nicht. Ich hatte noch gar keine Zeit, mich damit zu beschäftigen, was der Laden eigentlich macht, den ich jetzt leite.«
Er blieb vor mir stehen und sah auf mich herab. »Aber so, wie es im Moment aussieht, wird’s wohl nichts werden. McFerrin war eine zentrale Figur in Unterwegers Mannschaft. Sein Ausfall wirft uns mindestens ein halbes Jahr zurück. Und damit ist unser Entwicklungsvorsprung vermutlich futsch.«
Ich nahm einen Keks und einen großen Schluck Kaffee hinterher. »Haben McFerrin und Kriegel auch letzten Sommer schon an diesem Projekt gearbeitet? Als diese Firma noch Analytech hieß?«
»Darum ging es doch bei der Übernahme. Wir waren nicht an der Firma interessiert. Wir wollten ihre Technologie, das Know-how. Sie waren technisch mindestens zwei Jahre weiter als die SETAC.«
»Haben Sie inzwischen Kontakt zu Ihrem Herrn Meyers? Wir suchen ihn nämlich händeringend.«
Holthausen riss die Bürotür auf und rief ein paar Worte ins Vorzimmer. Dann kam er kopfschüttelnd zurück. »Der scheint tatsächlich verschwunden zu sein. Es kann einem ja Angst und Bange werden.«
»Wir haben mit den österreichischen und schweizerischen Behörden Kontakt aufgenommen. Aber bisher hat er sich dort nirgendwo gemeldet.«
»Vielleicht hat er ein Privatzimmer? Oder sein Hotelier nimmt es mit der Anmeldung nicht ganz so genau?«
»Jedenfalls könnte Ihr Herr Meyers für uns ein wichtiger Zeuge sein.« Ich sah dem ratlos wirkenden Geschäftsführer aufmunternd ins Gesicht. »Anderes Thema: Wenn die Analytech so hervorragende Produkte hatte, wie kam es, dass sie übernommen wurde?«
»Da man in Paris keine Chance sah, sie einzuholen, hat man sie gekauft. So läuft das heute. Dazu kam, die Firma war am Ende. Gute Produkte, gutes Team, aber ein hundsmiserables Marketing. Die Banken hatten ihnen schon die Schlinge um den Hals gelegt. Deshalb war der Laden letztlich ein Schnäppchen. Den Inhabern blieb gar nichts anderes übrig als zu verkaufen.«
»Und seither sind Sie also Chef im Haus.«
Er nickte nachdenklich, sah eine Weile hinaus in das immer heftiger werdende Schneetreiben und schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. »Wird noch ein verdammtes Stück Arbeit, den Haufen auf Vordermann zu bringen. Wenn der Schlendrian sich erst mal breit gemacht hat …«
»Was bedeutet das genau, auf Vordermann bringen?«
Er ging um den Schreibtisch herum und fiel in seinen Chefsessel. Amüsiert sah er mich an. »Warum plötzlich so giftig, Herr Gerlach? Ich mache meinen Job. Ich versuche ihn gut zu machen. Ist es bei Ihnen nicht ebenso?«
»Bei meiner Tätigkeit werden immerhin keine Menschen arbeitslos. Und darum geht es hier doch letztendlich, habe ich nicht Recht? Wie viele haben Sie schon auf die Straße gesetzt?«
Ich verstand selbst nicht, warum ich plötzlich so
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