Heidelberger Lügen
rasende Fahrt dauerte noch achtzehn Minuten länger.
Wie oft irrt man sich? Wie oft stimmt das Bild, das wir uns von einem Menschen machen, nicht oder kaum mit der Realität überein? Heute war es anders – Kretschmer war exakt der schmierige Typ, den ich erwartet hatte. In einem schlecht geheizten Besprechungszimmer der Klinik saß er vor uns, in weißem Pfleger-Anzug und nicht ganz so weißen Birkenstock-Latschen. Von unten her glotzte er uns aus misstrauischen Pitbull-Äuglein an und leugnete alles. Den Namen McFerrin wollte er nicht kennen, an einen Besuch am Abend des ersten Februar konnte er sich nicht erinnern.
»Wir haben Ihre Telefonnummer und Anschrift im Notizbuch des Mannes gefunden«, log ich ohne Zögern. »Wie erklären Sie sich das?«
»Was weiß denn ich, woher der meine Adresse hat? Wer ist das überhaupt?«
Ich war genau in der richtigen Laune für dieses Gespräch, das bisher nicht einmal ein Verhör war. »Ein paar Stunden vorher hat er noch mit Ihnen telefoniert. Ziemlich lange. Aber daran können Sie sich vermutlich auch nicht erinnern. Merkwürdig. Sehr merkwürdig, finden Sie nicht auch?«
»Telefoniert?« Kretschmer versuchte ein überlegenes Lachen. »Das wüsste ich aber!« Er schwitzte Mitleid erregend.
Obwohl Klara Vangelis ständig auf die Uhr sah, machte ich eine lange Pause. Dann beugte ich mich vor und fixierte ihn. »Herr Kretschmer, wir können diese Angelegenheit auf zwei Wegen hinter uns bringen. Entweder, Sie packen jetzt, hier und sofort aus. Dann will ich sehen, inwieweit ich die Geschichte unter der Decke halten kann. Oder, Option zwei, wir nehmen Sie auf der Stelle fest. Wegen dringenden Verdachts auf Mithilfe bei einer Gefangenenbefreiung. Dann ist Ihr Job weg, Sie sind vorbestraft und werden so leicht keinen neuen finden.« Ich lehnte mich wieder zurück. »Sie haben genau sechzig Sekunden.«
Der zweite Teil meiner kurzen Ansprache war reiner Bluff. Aber Kretschmer hatte keine Nerven. Er fummelte ein Päckchen Camel ohne Filter aus der Hosentasche und steckte es erschrocken wieder weg, als er meinen finsteren Blick bemerkte. Er sah zu Boden wie ein geschlagenes Kind und schien noch kleiner und noch fetter zu werden. Sein Gesicht war inzwischen roter als manche Hagebutte im Spätherbst.
»Ja. Er ist bei mir gewesen, ja, es stimmt. Wir haben auch telefoniert, okay. Aber er hat seinen Namen nicht gesagt, und ich hab ihn auch nicht danach gefragt. Kann sein, dass es dieser MacDingsda gewesen ist, was weiß ich. Aber ich hab doch auch gar nichts gemacht!«
»Wann genau hat er Sie besucht?«
»Kurz nach neun ist er gekommen. Um zehn hat meine Schicht angefangen.«
»Und was wollte er von Ihnen?«
Kretschmer knetete seine schweißnassen Hände.
»Wir haben keine Zeit für Spielchen. Also, was sollten Sie tun für ihn?«
»Dem Hörrle … Eine Gefälligkeit. Sagte, er sei ein Freund von ihm. Und ich …«
»Lauter, bitte. Ich verstehe Sie nicht.«
»Einen Brief. Einen Brief hab ich ihm geben sollen.«
»Hörrle?«
»Ja.«
»Und? Haben Sie?«
»Natürlich nicht!« Entrüstet schüttelte er den Kopf. »Will nix zu tun haben mit so Sachen! Ich bin doch nicht wahnsinnig!«
»Wie viel hat er Ihnen bezahlt für die kleine Gefälligkeit?«
»Nichts!« Verzweifelt sah er auf. »Gar nichts! Ich hab doch auch gar nicht … Ich hab den Brief, nicht mal angefasst hab ich den!«
Ich glaubte ihm kein Wort. Aber es würde schwer sein, ihm das Gegenteil zu beweisen. Immerhin wussten wir nun, wo die tausend Euro geblieben waren, die McFerrin am Abend vor seinem Tod aus dem Bankautomaten gezogen hatte.
Ich quälte Kretschmer noch ein wenig mit bösen Fragen und gemeinen Unterstellungen, aber wie erwartet brachte das nichts. Immerhin würde er in Zukunft äußerst vorsichtig sein, wenn Fremde ihn um Gefälligkeiten baten.
Auf der Rückfahrt hielt Vangelis sich im Wesentlichen an die Verkehrsregeln. Zwischendurch rief Balke an um zu fragen, ob es mit der Ablösung um sechs auch wirklich klappte. Um zu vermeiden, dass Vangelis wieder aufs Gas trat, erlaubte ich ihm, sich für eine halbe Stunde von Runkel vertreten zu lassen. Hörrle würde hoffentlich nicht gerade in dieser Zeit irgendetwas Verrücktes versuchen.
»Was ist eigentlich mit Balke los?«, fragte ich Vangelis, als ich das Gespräch beendete. »Er hat zurzeit eine Laune, dass es einen graust.«
»Was schon? Eine Frau natürlich.« Obwohl es inzwischen dunkel war, konnte ich sehen, wie sie schadenfroh
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