Heidelberger Lügen
eine Straßenbahn auf dem Römerkreis. Das ominöse silberfarbene Auto fiel mir plötzlich wieder ein, das mehrfach in der Nähe von McFerrins Wohnung gestanden hatte. Im Trubel der vergangenen Tage hatte ich das ein wenig aus den Augen verloren.
Ich suchte die Vergrößerungen, die unsere Techniker aus dem Überwachungsvideo der Tankstelle herausgearbeitet hatten. Kurz nachdem McFerrin an der Zapfsäule hielt, war am oberen Bildrand ein Wagen erschienen, dessen Lichter erloschen, noch bevor er zum Stehen kam. Aber weder Typ noch Kennzeichen waren auf den frustrierend unscharfen Schwarzweißfotos zu erkennen. Die Farbe des Wagens war hell, so viel stand immerhin fest. Vielleicht silberfarben, vielleicht auch nicht.
Erneut legte ich die Füße auf den Tisch. Nichts passte zusammen, nirgendwo ein Fädchen, an dem man ziehen konnte, um dieses Gespinst zu entwirren. Auf einmal verstand ich Balke. Auch ich hatte keine Lust mehr. Auch ich wollte nach Hause. Endlich wieder einmal ausschlafen. Mich um meine Mädchen kümmern. Ihnen ein guter Vater sein. Morgen Abend vielleicht …
Siedend heiß fiel mir Liebekinds Einladung ein. Ich musste Theresa anrufen. Dieser Wahnsinn hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. Wie immer, wenn ich sie dringend sprechen wollte, war ihr Handy aus. Fluchend legte ich wieder auf.
Jeder kennt das: Irgendetwas stimmt nicht. Man hat etwas gehört, überhört, was wichtig sein könnte. Man hat es längst vergessen. Unser Unterbewusstsein versucht unermüdlich, sich mit uns in Verbindung zu setzen. Aber es gibt momentan Wichtigeres, man ist nicht zu sprechen. Irgendwann jedoch, oft im völlig falschen Moment, dringt es zu uns durch.
Bei mir war es um vierzehn Uhr neununddreißig so weit. Zufällig sah ich auf die Uhr. Ich war gerade dabei, mit Sönnchen den Dienstplan fürs Wochenende zu besprechen. Die Geiselnahme brachte natürlich alles durcheinander. Ich musste Balke Recht geben. Es war an der Zeit, diese Sache zu Ende zu bringen. Andererseits – wenn wir das Haus stürmten, dann drohte mir ein Abendessen, auf das ich mich so sehr freute wie auf meinen nächsten Zahnarzttermin.
Auf meinem wieder einmal mit Papieren übersäten Tisch lag inzwischen auch das Foto aus der Radarkamera. Sönnchen hatte es vorhin gebracht. McFerrins Mercedes war gut zu erkennen, das Nummernschild klar zu lesen. Über die Person, die den Wagen fuhr, ließ sich kaum mehr sagen, als dass sie gewiss nicht Vitus Hörrle hieß. Ich war mir sicher, McFerrins Mörder vor mir zu sehen. Aber er war deutlich kleiner als Hörrle, fast zierlich, und wog mindestens dreißig Kilo weniger. Die Mütze trug er vielleicht in der Absicht, nicht erkannt zu werden, falls ihn jemand sah.
Vielleicht waren es die beiden Namen, Hörrle und McFerrin, die den Anstoß gaben. Die meinem Unterbewusstsein die Tür öffneten.
»Was ist denn bloß mit Ihnen, Herr Kriminalrat?«, fragte Sönnchen. »Sie machen mir wirklich Sorgen heute.«
Ich schüttelte den Kopf. Schüttelte ihn noch einmal. »Mir ist nur eben was eingefallen.«
»Was Wichtiges?«
»Ja. Ich fürchte, ja.«
Ich schickte meine verwirrte Sekretärin hinaus. Jetzt musste ich allein sein. In meinem Kopf kreiste ein Karussell mit beängstigendem Tempo.
Es war ein Satz, den Hörrle vor etwas mehr als zweieinhalb Stunden am Telefon gesagt hatte: »Warum soll ich den McFerrin umgebracht haben?«, oder so ähnlich.
Diese Formulierung war nicht richtig. Ganz und gar nicht richtig. Erwartet hätte ich etwas wie »diesen McFerrin« oder »den Kerl«. Aber Hörrle hatte gesagt: »den McFerrin.« Ich war mir ganz sicher, und diese Formulierung ließ nur einen Schluss zu: Er hatte ihn gekannt. Hörrle und McFerrin kannten sich.
Alles hing hier irgendwie mit allem zusammen. Kriegel und McFerrin, McFerrin und Hörrle. Ich war die ganze Zeit auf einer völlig falschen Fährte gewesen. Die Morde konnten weder mit der Analytech noch mit der SETAC zu tun haben. Der Schlüssel musste woanders liegen.
Weiter in der Vergangenheit vielleicht.
Viel, viel weiter zurück.
Schließlich rief ich Sönnchen wieder herein und telefonierte gleichzeitig nach Vangelis, die irgendwo im Haus sein musste. Kurze Zeit später saßen wir zu dritt zusammen.
»Hm.« Vangelis war wie üblich skeptisch. »Bisschen dünn, finden Sie nicht?«
»Dickeres haben wir im Augenblick nicht.« Ich faltete die Hände auf dem Tisch, blickte über die Köpfe der beiden Frauen hinweg an die blassgelb gestrichene Wand und
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