Heidelberger Lügen
immer schien die Sonne, dass es eine Pracht war. In meinem Wagen wurde es minütlich wärmer. Ich kurbelte das Fenster herunter. Warum lagen sieben Monate zwischen Kriegels und McFerrins Tod? War McFerrin vielleicht erst vor kurzem der richtige Verdacht gekommen? Hatte er herausgefunden, dass Kriegels Mörder das Geld nicht gefunden hatte? Dass es also noch irgendwo sein musste?
Sönnchens Telefonbuch fand ich mit einem Griff. Aber damit war meine Erfolgssträhne auch schon zu Ende. Eine Ilse Lehrmann war nicht eingetragen. Möglicherweise war sie weggezogen oder hatte geheiratet. Moritz Meyers’ Nummer fand ich immerhin. Aber der war ja in Urlaub. Er wohnte in Schlierbach, einem Vorort einige Kilometer den Neckar aufwärts, und ich konnte nur hoffen, dass er noch lebte.
Unter der dritten Nummer schließlich, bei Gianfranco Trapatino, meldete sich eine hörbar gestresste Frau. Im Hintergrund war Geschrei und Getöse.
»Gianfranco?«, fragte sie atemlos. »Nein, den können Sie nicht sprechen. Der ist auf Arbeit.«
»Würden Sie mir verraten, wo?«
»Natürlich. In Kiew.«
»In der Ukraine?«
»Genau. Sie bauen da unten eine Großdruckerei für eine Zeitung. Er ist schon seit neun Wochen dort. Und bleibt noch mindestens vier.« Sie nahm den Hörer vom Mund und schrie etwas auf Italienisch, aber der Radau wurde dadurch nur um Nuancen leiser.
»Kann man Ihren Mann dort anrufen, in Kiew?«
»Schlecht. Aber ich kann ihm sagen, er soll sich bei Ihnen melden. Ein Mal die Woche lässt er normalerweise von sich hören. Vielleicht heute, weil Sofia Geburtstag hat.«
Nun wusste ich, weshalb mir diese bedrohliche Geräuschkulisse so vertraut war: Dort tobte ein Kindergeburtstag, in meinen Augen nach der Explosion eines Kernkraftwerks die zweitgrößte denkbare Katastrophe.
Ich diktierte ihr meine Handynummer, legte die Füße auf den Tisch und tat das, was mir in verzwickten Fällen manchmal hilft, Überblick zu gewinnen, Zusammenhänge zu verstehen. Ich nahm einen Block mit kariertem Papier und zeichnete ein Soziogramm, in dem alle beteiligten Personen als Kästchen dargestellt waren, und ihre wechselseitigen Beziehungen durch Pfeile.
Im Gebäude war es angenehm ruhig. Hin und wieder klappte eine Tür oder hallten eilige Schritte über den Flur. Draußen bretterten drei Jungs mit Skateboards auf dem betonierten Vorplatz um die Wasserfläche.
Wer in meiner Zeichnung am Ende abseits stand, war Hörrle. Es war offensichtlich, dass er in die Sache verwickelt war, aber noch immer hatte ich nicht einmal einen Verdacht, auf welche Weise. McFerrin hatte am Abend vor seinem Tod versucht, mit ihm in Kontakt zu treten, ihm einen Brief zukommen zu lassen. Warum? Hatte er sich bedroht gefühlt? Wollte er Hörrle um Hilfe bitten? Hatte er herausgefunden, wo sich das verschwundene Geld befand, und suchte Unterstützung dabei, es an sich zu bringen? Noch in derselben Nacht brach Hörrle aus, und McFerrin begegnete ungefähr zur gleichen Zeit seinem Mörder. So weit, so schlecht. Das Durcheinander in meinem Kopf wurde wieder einmal größer statt kleiner. Nur eines war mir jetzt klar: Wenn ich wusste, was Hörrle mit Kriegel zu schaffen hatte, dann kannte ich vermutlich auch die Gründe für seinen Ausbruch und McFerrins Tod.
Ich trat ans Fenster. Die Knaben hatten den Spaß an ihren Skateboards noch nicht verloren. In unserem kleinen, viereckigen Teich mit dem Charme eines Swimmingpools stellte ein Enterich seiner Ente nach. Die Sonne schien mit einer Kraft, die mir wieder einmal bewusst machte, dass ich in einer der wärmsten Gegenden Deutschlands wohnte. Nur kurz kämpfte mein Pflichtbewusstsein gegen den Drang, mich zu Hause auf den Westbalkon zu legen. Die Sonne siegte. Wenigstens ein bisschen Wochenende musste sein.
19
Zwanzig Minuten später lag ich in der Nachmittagssonne, neben mir ein Glas Orangensaft, in meinem Schoß die Samstagszeitung. Ich las den großen Artikel über den Verkauf der SETAC noch einmal. Der Verfasser war unverkennbar kein Freund der Globalisierung. Hinter dem amerikanischen Konzern steckte offenbar ein schwerreicher Investor namens Steven Dorflinger, vermutlich ein Mann deutscher Abstammung, dem über die Generationen die Pünktchen über dem o abhandengekommen waren. Er hatte sich schon mehrfach einen schlechten Namen als rücksichtsloser Aufkäufer gemacht. In der Regel wurden die nicht rentablen Teile einer Firma umgehend geschlossen, die profitablen mit harter Hand aufgeräumt und bald darauf
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