Heidelberger Lügen
seinem Schussfeld!«
»Aber wir können sie doch nicht da liegen lassen!«, schrie ich ihn an. »Sie stirbt!«
»Keine Panik, Herr Kollege. Wir bringen sie schon in Sicherheit.«
Vangelis dirigierte Einsatzkräfte in die Nähe der Verletzten, positionierte die Scharfschützen um, brachte zwei Notarztwagen in Stellung. Manchmal, wenn es für einen Moment still war, meinte ich, leises Wimmern aus den Lautsprechern zu hören. Aber das war vielleicht auch Einbildung.
Ich stritt noch ein wenig mit diesem unerträglich gelassenen SEK-Zombie herum. Schließlich kamen wir überein, dass zwei entsprechend geschützte Männer versuchen sollten, Anne Hörrle aus dem Schussfeld ihres Neffen zu holen. Rasch waren Freiwillige gefunden, junge Burschen ohne Familie, die noch am Anfang ihrer Karriere standen.
Die zwei mussten erst ihre Ausrüstung anlegen, wieder wurden die Scharfschützen umpostiert, die Hörrle unter Feuer nehmen würden, falls er auch nur seine Nasenspitze zeigen sollte. All das dauerte unerträglich lange. Mir lief der Schweiß in den Nacken und versickerte im Hemdkragen. Vangelis atmete hektisch und wandte den Blick keine Sekunde von den Monitoren.
Inzwischen bewegte die alte Frau sich nicht mehr. Wo Hörrle sie getroffen hatte, war nicht zu erkennen. Immerhin schien sie nicht viel Blut zu verlieren.
Endlich, ich weiß nicht, ob fünf oder fünfzehn Minuten nach dem Schuss, war alles bereit. Über Funk kam der Befehl zum Zugriff. Nebelkerzen flogen in hohem Bogen auf die Wiese zwischen Anne Hörrles Haus und ihrem leblosen Körper. Sekunden später war sie für Hörrle schon nicht mehr zu sehen.
Mit angehaltenem Atem beobachteten wir, wie die beiden Vermummten sich hinter ihre schweren Schilde geduckt von verschiedenen Seiten der Verletzten näherten. Dass diese Schilde gegen Gewehrfeuer wirklich Schutz bieten würden, konnte ich nur hoffen. Hinter jeder Hausecke lag ein schwarz gekleideter Scharfschütze im nassen Gras und zielte auf die Fenster, die Tür. Aber inzwischen sahen auch sie wegen des künstlichen Nebels nichts mehr. Dasselbe galt für die meisten unserer Kameras. Nur ein Monitor zeigte noch ein halbwegs klares Bild. Diese Kamera war so hoch montiert, dass wir die Szene fast aus der Vogelperspektive beobachten konnten.
Ich hörte ein Geräusch, das mir gar nicht gefiel. Ein Hubschrauber im Anflug. Vermutlich wieder einer dieser lebensmüden Reporter. Aber um den konnte ich mich jetzt nicht auch noch kümmern.
Endlich hatten die Männer die leblose Frau erreicht, jeder packte sie unter einer Schulter, vorsichtig begannen sie, den Körper durch das Gartentor auf die Straße zu ziehen. Ich atmete tief durch. Auch Vangelis entspannte sich mit einem dramatischen Seufzer. Noch zehn Meter, dann war Anne Hörrle in Sicherheit. Falls sie noch lebte. Noch sieben Meter. Noch fünf.
In diesem Augenblick flog das Haus in die Luft.
Auch unsere letzte Kamera war nun blind, und dem Gebrüll aus den Lautsprechern war zu entnehmen, dass die Kollegen vor Ort nicht mehr wussten, was los war, wie sie sich verhalten sollten. Zum Glück hatten die beiden Retter die Nerven behalten und Hörrles Tante zwar unsanft, aber erfolgreich aus dem Gefahrenbereich geschleift.
Sekunden nach der Explosion brannte das Haus wie eine Riesenfackel. Der halbe Dachstuhl war weggeflogen, alles lag voller Trümmer, Ziegel, Gebälk, und über allem kreiste dieser verfluchte Hubschrauber, in dem sich nun vermutlich jemand auf sensationelle Einkünfte freute.
Was war mit Hörrle? Niemand konnte an das brennende Haus heran. Wenn er die Explosion überlebt hatte, dann wartete er nur darauf, so viele wie möglich mit in den Tod zu reißen. Es war klar, dass das, was sich gerade abspielte, der lange angekündigte Selbstmord war. Nach dem Verlust seiner Geisel hatte Hörrle vermutlich die Hoffnungslosigkeit seiner Lage eingesehen und sofort die leider völlig falschen Konsequenzen gezogen.
Als die Meldung aus dem Notarztwagen kam, waren wir alle erleichtert.
»Sie ist unverletzt. Er hat sie nicht getroffen. Nur ein paar Schrammen und ein kleiner Schock. Die alte Dame hat prima reagiert, indem sie sich einfach tot stellte.«
Das Haus prasselte wie ein Maifeuer. Hin und wieder krachte ein Stück des Dachstuhls herunter, Funkenwolken schossen in den Himmel. Die Feuerwehren versuchten, so gut es ging, die Nachbarhäuser zu schützen, indem sie aus sicherer Position Wasser auf die Dächer spritzten. Noch drohte Gefahr, noch konnte Hörrle
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