Heidelberger Lügen
Kollegin in unserer Telefonzentrale war es gelungen, Ilsebilse Lehrmanns Eltern aufzutreiben. Die alten Leutchen wohnten in der Nähe von Offenburg im Schwarzwald und waren zum Glück noch wach. Die Mutter war sehr erschrocken, als sie endlich begriff, dass die Kriminalpolizei sich für ihre hübsche Tochter interessierte.
»Sie ist so ein liebes Kind gewesen, unsere Ilse, das können Sie sich gar nicht vorstellen«, erklärte sie mir mit krächzender Stimme. Entweder war sie schwer erkältet oder sie rauchte entschieden zu viel. Während des Telefonats hatte ich unentwegt das Bedürfnis, mich zu räuspern.
»Heutzutage ist das ja alles nicht mehr so. Wenn ich nur sehe, wie die Mädchen sich heute anziehen! Aber was Wunder, es gibt ja auch keine Erziehung mehr. Die machen, was sie wollen, und …«
»Frau Lehrmann, ich …«
»Ich sag Ihnen was: Es kommt alles vom Fernsehen. Was die Kinder heute den lieben langen Tag gucken, ist es da ein Wunder …«
»Frau Lehrmann …«
»Hier in der Nachbarschaft zum Beispiel, da hat’s auch ein paar von der Sorte. Noch keine fünfzehn und rauchen schon wie die Schlote und angezogen sind die jungen Dinger, als gingen sie … Man mag’s gar nicht sagen.«
Natürlich musste ich an meine Töchter denken und ihre neu angeschafften T-Shirts.
»Und so gehen die heute in die Schule, stellen Sie sich vor! Wenn meine Ilse damals, also, ich kann Ihnen aber sagen …«
»Ihre Tochter ist verheiratet, habe ich gehört?«
»Gott sei Dank, ja. Heutzutage heiraten die jungen Leute ja nicht mehr! Alles nur noch wilde Ehen, heute dieser, morgen jener. In unserer Nachbarschaft, da gibt’s Kinder, die haben vier Omas, stellen Sie sich vor! Früher hat man so was Unzucht genannt, da ist das bestraft worden, aber heutzutage …«
Zu meinem Glück bekam die alte Frau einen Hustenanfall.
»Wie kann ich Ihre Tochter erreichen? Wo wohnt sie?«
»Warum wollen Sie das denn wissen? Unsere Ilse ist ein anständiges Mädchen. Sie war so ein liebes Kind und …«
»Daran zweifle ich nicht, aber …«
»In der Schweiz. In der Schweiz wohnt sie.«
»Wo genau?«
»Bei Zürich. Sie ruft uns viel an. Sie kann uns nicht so oft besuchen. Sie hat’s natürlich auch schwer, der Mann arbeitet so viel, und da können sie ja nicht ständig verreisen. Und sie darf uns nicht verraten, wo sie wohnt, weil …« Wieder schüttelte sie der Husten.
»Ihre Tochter verrät Ihnen nicht, wo sie wohnt?«
»Weil der Mann doch bei einer Bank ist«, erwiderte meine Gesprächspartnerin ungeduldig. »Und da haben sie natürlich eine Geheimadresse.«
»Aber eine Telefonnummer haben Sie schon?«
»Nur für Notfälle. Sie mag es nicht, wenn man sie dauernd anruft. Man kann das ja auch verstehen, das arme Kind hat so viel um die Ohren. All diese gesellschaftlichen Verpflichtungen. Er ist was ganz Wichtiges bei der Bank.«
»Es wäre wirklich dringend.«
»Wir dürfen nur anrufen, wenn einer von uns stirbt. Weil ihr Mann doch …«
»Aber den Nachnamen können Sie mir verraten.«
Sie zögerte. »Haben Sie auch Kinder?«, fragte sie dann.
»Zwei Töchter. Sie sind vierzehn.«
»Und wie ziehen die sich an?«
»Ach«, sagte ich. »Ganz normal.«
»Na ja.« Ihr Ton klang resigniert. »Und Sie sind wirklich von der Polizei? Man liest ja die komischsten Sachen in der Zeitung. Aber wenn Sie von der Polizei sind … Sie haben eine so nette Stimme. Tschudi heißt er. Ferdinand Tschudi. Ilse sagt aber Fred zu ihm. Und er zu ihr Uli. Ist Ilse denn kein schöner Name, frag ich Sie? Aber sie hat schon eine gute Partie gemacht, da gibt es nichts. Es ist nur alles so kompliziert, wenn der Mann so ein hohes Tier ist.«
Plötzlich stieß Klara Vangelis einen Schrei aus. Als ich hinsah, hatte sie schon das Mikrofon am Mund und gab in rascher Folge Kommandos. Auf dem Monitor, der die Straßenseite des Hauses zeigte, sah ich eine alte Frau das Haus verlassen und zum Verzweifeln langsam auf das Gartentor zuhumpeln. Als sie noch drei Schritte von der Straße entfernt war, fiel ein Schuss, sie sackte auf die Knie, rollte zur Seite und blieb liegen. Die Haustür wurde von innen ins Schloss geworfen, dann war es wieder still.
»Sie lebt!«, rief Vangelis nach langen, lähmenden Sekunden. »Sie bewegt sich!«
Ich hatte den Telefonhörer noch in der Hand. Meine Hände waren feucht, mein Puls klopfte an den Schläfen.
»Das geht aber nicht so einfach«, erklärte mir der Leiter des Sondereinsatzkommandos. »Die Frau liegt voll in
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