Heidelberger Lügen
herausgefunden haben, wo es ist.« Vangelis steckte ihren silbernen Stift in die Innentasche des auf Taille geschnittenen Nadelstreifen-Jacketts und erhob sich. »Allein hat er sich vielleicht nicht rangetraut, also hat er Hörrle um Hilfe gebeten. Und der holt es sich nun alleine, nachdem McFerrin nicht mehr lebt.«
Ich wandte mich an Balke. »Haben die Hunde denn keine Spur von ihm gefunden?«
»Doch, natürlich. Vom Schuppen bis zur Straße, dann ist er aufs Rad gestiegen. Ein Nachbar hat morgens gegen halb fünf einen Kerl beobachtet, der einen Reifen aufgepumpt hat. Er sei nicht mal besonders in Eile gewesen.«
»Wenn unsere Theorie richtig ist«, überlegte ich, »dann wird Hörrle also früher oder später beim Schlosshotel in Heinsheim auftauchen.«
»Wir dürfen nicht vergessen, dass es noch einen zweiten Mann gibt, der hinter dem Geldkoffer her ist. Diesen unbekannten Herrn Biermann.« Vangelis schlug das oberste von McFerrins Fotoalben auf, die immer noch auf meinem Tisch lagen, blätterte langsam, deutete schließlich auf ein Gesicht. »Vielleicht ist es der hier?«
»Vit, Jack and me«, las Balke ratlos. »Du meinst, Jack hat auch was mit der Geschichte zu tun?«
Sie sah nachdenklich auf uns herunter. »Wir sollten das Foto Meyers zeigen.«
»Das Arschgesicht hat mein Haus in die Luft gesprengt!«, fauchte Anne Hörrle mich an, noch bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Sie lag in einem Einzelzimmer des Kurpfalz-Krankenhauses in der Bonhoefferstraße. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Mineralwasser neben einem kleinen Glas. Es roch, wie es in jedem Krankenhaus riecht. Durch das Fenster sah man auf Platanen, in der Ferne glitzerte sogar ein Zipfel des Neckars. Das Kopfende ihres Betts hatte sie fast senkrecht gestellt. Nun funkelte sie mich an und wirkte, vielleicht wegen ihres glühenden Zorns, jünger als sie war. Das ungewöhnlich scheußliche, türkisgrüne Nachthemd, das man ihr vermutlich geliehen hatte, war mindestens zwei Größen zu eng. Ihr vor Empörung wogender Busen drohte es jeden Augenblick zu sprengen.
Anne Hörrle war sehr, sehr wütend.
»Wo soll ich denn jetzt hin?«, herrschte sie mich an. »Und ihr Penner lasst den Dreckskerl auch noch laufen! Habt ihr ihn schon geschnappt?«
»Noch nicht. Aber wir sind ihm dicht auf den Fersen.« Ich schob einen Stuhl neben das Bett und setzte mich.
Sie schimpfte noch eine Weile vor sich hin, dann schwollen die Adern an ihrem Hals ab, und sie schnaufte nur noch grimmig. Eine alte Frau, die vier Tage und Nächte in ständiger Todesangst verbracht hatte, hatte ich mir ein wenig anders vorgestellt. Bei den Hörrles schienen nicht nur die Männer harte Knochen zu sein.
Ich fragte, was sie über die Pläne ihres Neffen wusste.
»Pläne? Was für Pläne denn?«, fragte sie misstrauisch zurück.
»Hat er nie erwähnt, was er vorhat?«
»Abhauen. Abhauen wollt er, was sonst? Und anscheinend hat’s ja nun auch prima geklappt!« Ihre Gesichtsfarbe wurde schon wieder dunkel. »Wie könnt ihr denn diesen Saftsack davonlaufen lassen, ihr Penner? Wie viele wart ihr? Zwanzig? Dreißig? Gegen einen! Und kriegt ihn nicht mal?« Sie schüttelte den runden Kopf ob der unglaublichen Dummheit der Staatsgewalt.
Das Schlimmste war, ich konnte ihr nicht einmal widersprechen.
Eine große Krankenschwester mit dünnem, kastanienbraunem Haar trat geräuschlos ein. Als sie nach dem Arm der Patientin greifen wollte, scheuchte diese sie fort. »Hau ab, du Pillenschubse! Ich bin nicht krank! Mir hat man bloß das Haus angezündet! Und da weiß ich auch ohne dein blödes Gerät, dass der Blutdruck ein bisschen hoch ist!«
Die Schwester errötete tief und trollte sich.
Anne Hörrle erzählte mir zeternd und keifend, in Sätzen voller nie gehörter Schimpfwörter, wie sie die vergangenen Tage verbracht hatte. Am Mittwochmorgen um halb sechs hatte ihr Neffe Sturm geklingelt. Nichts ahnend hatte sie ihn hereingelassen.
»Woher soll ich denn wissen, dass der aus dem Knast ausgebüxt ist? Hab gedacht, ihr habt ihn laufen lassen. Kriegt heut nicht jeder mildernde Umstände? Lasst ihr sie nicht alle laufen? Kinderschänder, Vergewaltiger, Mörder, alles rennt doch heutzutage frei rum und sprengt friedlichen Leuten das Haus weg, wie’s gerade passt!«
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte Hörrle sie auf einen Stuhl gefesselt und ihren Mund mit einem Pflaster verschlossen.
»Dann hat er regelrecht Inventur gemacht. Wie lange wir zu essen haben,
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