Heidelberger Requiem
es wurde noch einmal warm. Ich bemühte mich, nicht vollkommen schweigsam zu sein, und langsam entwickelte sich ein Gespräch. Ich erzählte ihr von meinen Mädchen, was sie sehr interessierte. Die Wahl der Schule fand sie absolut richtig.
»Auf die ist meine Nathalie auch gegangen«, erklärte sie mir gewichtig. »Da ist es noch so wie früher. Keine Drogen, keine Schlägereien, nicht so viele Ausländer.«
Meine Stimmung stieg. Mein Handy klingelte.
»Paps?«
»Habt ihr eure Arbeit gemacht?«
»Natürlich.«
»Was heißt das genau?«
»Alles haben wir gemacht. Treppe geputzt. Spielsachen sortiert. Alles, was du gesagt hast.«
»Und eingekauft auch?«
»Eingekauft auch. Und sogar Wäsche haben wir gewaschen. Obwohl du das gar nicht gesagt hast. Und aufgehängt.«
Etwas beunruhigte mich an diesen Antworten. Das war alles zu schön, um wahr sein zu können.
»Paps?«, kam es zaghaft. »Wir dürfen doch heute Abend ein bisschen in die Disco, ja?«
»Disco ist ab sechzehn.«
»Aber alle gehen in die Disco! Die Nadine zum Beispiel, die nimmt immer einfach den Perso von ihrer großen Schwester und …«
»Ihr wisst, dass das kriminell ist. Vergesst es, okay? Geht wieder ins Kino, von mir aus.«
»Aber wir sind auch in Begleitung!«
Ich stellte mir vor, wie meine zarten, unschuldigen Kinder von einer Bande volljähriger Kerle in irgendeiner schmierigen Diskothek mit Alkopops und Party-Drogen willenlos gemacht wurden, während sie nebenbei ertaubten von diesem infernalischen Lärm, den sie Musik nannten.
»Kommt nicht in die Tüte. Fragt in drei Jahren nochmal.«
Ihre Stimme wurde flehend. »Paps! Wir haben es aber doch schon versprochen!«
»Euer Problem.« Ich beendete das Gespräch.
Meine Laune stürzte ins Bodenlose. Seit Vera nicht mehr da war, ging das öfter so. Innerhalb von Augenblicken konnte ich aus hellster Euphorie in trübste Depression versinken. Frau Brenneisen musste die Unterhaltung wieder allein bestreiten. Ich dachte an Frau Gardener, die am Tod ihres Sohnes verzweifelt war, für den sie sich die Schuld gab. Ich dachte an meine Töchter, die mich jetzt dafür hassten, dass ich ihnen alles verbot, was ein bisschen Spaß machte. Ich beschloss, mir am Wochenende endlich wieder einmal Zeit für sie zu nehmen, etwas Schönes mit ihnen zu machen, Spaß miteinander zu haben. Endlich mal wieder eine Familie zu sein, auch ohne Mutter. Vielleicht würde ich eine Runde Monopoly mit ihnen spielen, das sie so sehr mochten, weil sie immer gewannen.
Ich überlegte, dass ich wohl doch einmal zum Augenarzt gehen und meine Sehfähigkeit testen lassen sollte. Aber die Vorstellung erschien mir noch unattraktiver als die Aussicht auf die morgige Fortsetzung des Verhörs. Ich grübelte, wie ich den Abend verbringen wollte. Zu Hause zwei frustrierten Teenagern beim Schmollen zuzusehen, hatte ich keine Lust. So entschied ich mich schließlich, mir einen freien Abend zu gönnen, in Heidelberg zu bleiben, irgendwo eine Kleinigkeit zu essen und unser neues Viertel zu erforschen. Frau Brenneisen war hell begeistert von meinem Plan und bot mir von ihren Bockwürsten an, die weithin berühmt seien.
»Die hol ich jeden Morgen frisch vom Ochsen-Metzger in Ziegelhausen. Da lass ich nichts drauf kommen, die sind erste Qualität, für die kommen manche Leute sogar von weit her …«
Man konnte unter nicht weniger als fünf Sorten Senf wählen zu diesen sagenhaften Würsten. Als sie meinen Blick bemerkte, empfahl sie mir mitfühlend ein Bistro ganz in der Nähe, wo ihre Tochter arbeitete. Sie war kein bisschen beleidigt, dass ich ihre Schnellküche verschmähte, und versprach, weiterhin gut auf meinen Wagen aufzupassen.
11
Das Bistro in der Rohrbacher Straße war sichtlich neu und mit Geschmack eingerichtet, Nathalie Brenneisen um Klassen hübscher als ihre Mutter, die Speisekarte klein, aber mit Phantasie und offensichtlichem Spaß an der Sache zusammengestellt. Ich wurde bedient wie ein Stargast und hatte das Gefühl, dass mein Besuch nicht unerwartet kam. Demnächst würde es mir vermutlich nicht mehr möglich sein, hier auch nur einen Schritt zu machen, der nicht von Frau Brenneisens Informationsnetzwerk registriert wurde.
Außer mir waren nur ein paar gickelnde Teenager da, die an einem der hinteren Tische saßen, sich flüsternd von ihren jüngsten Abenteuern und Eroberungen erzählten und an ihren Eistees nippten. Ich sah durch die großen Fenster nach draußen und fühlte mich auf einmal wohl. Zur Feier
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