Heidelberger Requiem
dieses nun plötzlich doch noch schönen Tages gönnte ich mir eine Weinschorle und bestellte eine »Insalata ai frutti di Mare«. Mit den ersten Schlucken nahm ich sicherheitshalber noch eine von meinen Vitamintabletten.
Unser neues Wohnviertel gefiel mir immer besser. Die ganze Stadt gefiel mir. Plötzlich freute ich mich auf den Umzug, auf die neue, unbekannte Umgebung, und die Zukunft erschien mir leicht und voller Möglichkeiten. Alles würde sich ändern. Endlich würde ich wieder auf meine Gesundheit achten. Seit Veras Tod hatte ich zugenommen. Damals hatte mein fester Vorsatz gelautet, niemals im Leben mehr als achtzig Kilo zu wiegen. Heute lag die magische Grenze bei fünfundachtzig, und eine weitere Verschiebung stand unmittelbar bevor. Seit Monaten hatte ich kein bisschen Sport mehr getrieben. War versunken gewesen in Lethargie und Trauer.
Plötzlich war ich wieder überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. In dem Haus, wo ich so lange mit Vera gelebt hatte, wo unsere Töchter zur Welt gekommen waren, ihre ersten Schritte versucht und sich ihre ersten Beulen geholt hatten, würde ich niemals wieder ein unbeschwertes Leben führen können. Jedes Mal, wenn sich hinter mir eine Tür öffnete, erwartete ich, Veras Schritt, ihre Stimme zu hören. Jede Bodenfliese erinnerte mich an sie, jede Tapete, die wir gemeinsam ausgesucht und am Ende regelmäßig restlos zerstritten an die Wand gekleistert hatten. Jedes Möbelstück von IKEA, das wir unter wilden Flüchen und wechselseitigen Vorwürfen dreimal zusammen- und wieder auseinander geschraubt hatten, bis das Ding wenigstens ungefähr so aussah wie im Katalog.
Ich überlegte, was ich mitnehmen würde in mein neues Leben. Viel würde es nicht sein. Viel durfte es nicht sein. Vielleicht würde es mir auf diesem Wege gelingen, endlich nicht mehr alle fünf Minuten an den Menschen zu denken, mit dem ich zwanzig Jahre lang alles geteilt hatte. Und vielleicht würde ich mit der Zeit wirklich eine andere Frau finden. Noch lange war ich nicht alt genug, um mich mit dem Alleinsein abzufinden. Noch hatte ich jede Menge Zukunft vor mir. Und natürlich hatte diese Frau in meiner Vorstellung starke Ähnlichkeit mit einer gewissen blonden Oberärztin des Universitätsklinikums.
Mit ausgestreckten Beinen und im Genick verschränkten Händen beschloss ich, sie morgen aufzusuchen und mir viel Zeit für dieses Gespräch zu nehmen. Und wer weiß, vielleicht würden wir uns am Ende auch ein wenig über andere Dinge unterhalten. Sie erwiderte mein Interesse. Warum sonst sollte sie sich die Mühe machen, mich anzurufen, obwohl ich gar nicht um Rückruf gebeten hatte? Vielleicht würde ich etwas von ihrem Leben erfahren, womöglich würden wir sogar in der Kantine ihrer Klinik einen Kaffee zusammen trinken und uns näher kommen. Sie war nicht sehr viel jünger als ich. Sie mochte mich. Sie trug keinen Ring und lebte allein. Ich nahm mir vor, morgen früh ausnahmsweise darauf zu achten, was ich anzog, und hatte merkwürdige, lange nicht gekannte Gefühle in der Magengegend.
Ein Schatten fiel auf mich. Jemand trat an meinen Tisch. Ich sah auf. Es war die Frau mit der Perlenkette.
»Darf ich?«, fragte sie mit einem scheuen Lächeln, das mich verwirrte. Ich machte eine alberne Geste und setzte mich korrekt hin.
»Sie sehen fröhlich aus«, sagte sie ernst, nachdem sie Platz genommen hatte. »Geht es Ihnen gut?«
»Ich habe gestern eine Wohnung gefunden. Eine richtig tolle Wohnung. Gar nicht weit von hier.«
Sie nickte konzentriert. »Die Weststadt ist ein sehr schönes Viertel.«
Damit war der erste Teil unseres Gesprächs zu Ende. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte, und ihr ging es offenbar ebenso. Eine Weile betrachtete sie ihre gepflegten Hände. Glücklicherweise kam mein Salat.
»Sie gestatten doch? Ich bin ziemlich hungrig.«
Sie entspannte sich und lächelte wieder. »Ich bin noch nie hier gewesen«, sagte sie leise und sah sich um.
Der Salat war vorzüglich, und allmählich kam unser Gespräch wieder in Gang. Während ich aß, erzählte sie mir von Heidelberg. Sie hatte eine angenehm volle, leicht angeraute Altstimme. Ob sie rauchte? Sie mochte zwei, drei Jahre jünger sein als ich. Nicht so energisch und temperamentvoll wie Marianne Schmitz, dafür weiblicher, weicher. Ihre Bewegungen strahlten Ruhe und Sinnlichkeit aus. Sie wählte ihren Rotwein mit Bedacht und schien etwas davon zu verstehen. Und ohne dass ich hätte sagen können, wie wir
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