Heidelberger Wut
Öffentlichkeit war er durch diese Tat zur Bestie geworden. In gewählten Worten diskutierte Möricke die Frage, wie lange die Strafverfolgungsbehörden einen solchen Sittlichkeitsverbrecher und gefährlichen Gewalttäter noch frei herumlaufen lassen wollten.
»Der Professor hat vorhin schon angerufen«, eröffnete mir Sönnchen, als sie das Frühstück servierte. »Ob Sie um zehn Zeit für ihn hätten. Der Herr Braun möchte nämlich ein Geständnis ablegen.«
Und wie ich Zeit hatte!
»Und dann möchte die Frau Vangelis gerne mit Ihnen reden. Es sei wichtig.«
Als Erstes versuchte ich jedoch, Seligmann zu erreichen, um ihn zu besänftigen, falls er den Artikel schon gelesen haben sollte, und zu fragen, ob ihm noch etwas zu Jules Geschenken eingefallen war. Aber sein Telefon war besetzt.
Dann rief ich Vangelis an.
»David Braun und Thorsten Kräuter haben tatsächlich einige Zeit zusammen in Marburg studiert«, teilte sie mir aufgeräumt mit. »Kräuter kam ein Jahr später als David Braun nach Marburg, und sie haben sogar in derselben WG gewohnt. Bis Kräuter von der Uni flog, weil irgendetwas vorgefallen war. Was, lasse ich gerade recherchieren.«
»Damit hätten wir also über seinen Sohn eine mögliche Verbindung zwischen Braun und Bonnie and Clyde. Er wird seinen David vielleicht mal in Marburg besucht haben. Dabei hat er Kräuter kennen gelernt, und später, als er auf die Idee kam, seine eigene Bank auszurauben, hat er sich an ihn erinnert.«
Bevor wir auflegten, erzählte ich Vangelis noch von Jules Geburtstagsgeschenken. Vangelis reagierte nicht gerade euphorisch.
»Schön und gut«, sagte sie. »Aber wie sollen wir diese Sachen finden, jetzt, nach zehn Jahren? Wir wissen doch nicht einmal, wo wir anfangen sollen zu suchen.«
Da hatte sie natürlich Recht. Sönnchen hatte durch die offene Tür mitgehört, aber nur die Hälfte verstanden.
»Ein Discman?«, rief sie neugierig. »Gibt’s die Dinger denn überhaupt noch? Meine Nichten und Neffen haben jetzt alle diese kleinen MP3-Player. Was ist mit dem Ding?«
So erzählte ich die Geschichte mit größerer Lautstärke ein zweites Mal und bat sie, nur sicherheitshalber, mir noch einmal die Liste der Dinge zu bringen, die Jule bei der Einlieferung ins Krankenhaus bei sich gehabt hatte. Minuten später brachte sie mir ein einziges kopiertes Blatt. Während ich an meinen Croissants knabberte, las ich, dass Jule damals eine schwarze Handtasche aus glattem Leder mit sich geführt hatte. Darin die Utensilien, wie ich sie auch bei meinen Töchtern gefunden hätte: zwei Lippenstifte, ein Labello, ein buntes Puderdöschen, ihr schmales Schlüsselbund mit einem Plüschbärchen als Anhänger, der Kinderausweis, der sicherlich am nächsten Tag gegen einen richtigen, echten »Perso« ausgetauscht worden wäre, der Traum jedes Menschen zwischen vierzehn und sechzehn. Daneben Jules Schülerausweis, die Monatskarte für die Straßenbahn, mehrere Sorten Kaugummi und der übrige Krimskram, der sich mit der Zeit in jeder Handtasche anzusammeln pflegt.
Am Hals hatte sie eine billige Kette aus bunten Glaskugeln getragen, am linken Unterarm einen silbernen Reif mit eingraviertem Namen, an den Ohren ebenso silberne, leichte Ringe. Sonst hatte sie nichts bei sich gehabt, außer dem, was sie am Leib trug. Was ja nicht viel war.
Ich probierte noch einmal Seligmanns Nummer. Aber es war immer noch besetzt. Vermutlich hatte er den Hörer neben sein vorsintflutliches Telefon gelegt.
Pünktlich um zehn Uhr klopfte es – der Einzug der Gladiatoren. Voran Professor Breitenbach, gefolgt von Braun, Vangelis und natürlich Balke, der sich das Erlebnis auch nicht entgehen lassen wollte. Sönnchen schloss die Tür hinter ihnen, alle nahmen Platz, der Anwalt klappte eine in hellbraunes Kalbsleder gebundene Mappe auf, sah sich um, ob auch alle aufmerksam zuhörten, und begann mit leiernder Stimme zu lesen. Es kam eine Menge Paragraphen. Aber es waren nicht die richtigen. Ich verstand Worte wie »Insidergeschäfte«, »Veruntreuung« und noch ein paar andere, die absolut nicht in den erwarteten Kontext passten. Nicht nur Balkes Gesicht wurde länger und länger.
Professor Breitenbach klappte seine Mappe achtsam zu. »Mein Mandant wird weiterhin von seinem Recht auf Verweigerung der Aussage Gebrauch machen.«
Dann schwieg er.
»Das heißt also …«, begann ich endlich mit belegter Stimme. »… Herr Braun behauptet, er hätte mit dem Bankraub gar nichts zu tun?«
»So ist
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