Heidenmauer
zuzuwenden.
»Noi! Ich hob die Mail ja selbst erst kurz vor der Besprechung gelesen, Mensch. Die elende Kaffeemaschine, die macht mich noch ganz narrisch. Ich hobs außerdem aus dem Meldesystem rausbekommen. Die Mutter von dem do, die ist im Maria-Martha-Stift.«
Lydia blieb ungehalten. »Genau. Kaffee gab’s auch keinen. Das ist besonders schlimm.«
Erich Gommert ignorierte die ungerechtfertigte Kritik. Er sagte: »Des Lindau, des wird immer gefährlicher. Lauter Verbrecher umanand. Es vergeht ja kaum mehr ein halbes Jahr, dass net irgendwo e Leich umandander flaggt.«
»C’est la vie, Gommi«, suchte Schielin, dem Schmerz seines Kollegen etwas ebenso Tiefsinniges entgegenzusetzen, und füllte weiter die Formularfelder aus.
»Des sagst du so leicht dahin, nichts geht mehr, Conrad. Aber ich fühl mich ja scho nimmer sicher. Lauter Verbrecher, wo man hinschaut. Und dann geht man am Sonntagabend ins Kino, einen schönen Film ansehen, und danach schlagen’s einem mitten in der Stadt den Schädel ein. Wenn’s das erste Mal wäre, das so was passiert. Aber des ist ja fast schon eine schwarze Serie. Und vonseiten der Stadt … die machen da ja gar nichts … wie immer … hocken nur rum … aussitzen. Des ham die gelernt von dem Dicken, dazumal. Alles bleibt an uns hängen.«
Schielin schnaufte, Lydia Naber schüttelte den Kopf.
»Wobei … es ist schon komisch. Den Kerle do, den Journalist, den haun die genau do an dem alten Baumer do um.«
»Gommi, da sind lauter alte Bäume, wo der umgehauen worden ist.«
»Ja, schon. Aber ich mein doch den besonderen, den ganz den alten.«
Schielin hielt inne. Auch Lydia unterbrach. Es mochte ja sein, dass ihr Kollege nicht ohne Fehl war, aber manchmal, manchmal, das hatten sie gelernt, lohnte es sich durchaus, hinzuhören.
»Was für ein besonderer Baum?«, fragte Lydia und wendete sich dem Türrahmen zu. Schielin sank im Bürostuhl zurück und schielte zur Tür.
Erich Gommert sah zur Decke. »Jaaa … was für ein besonderer nun … der Name, ich habs net so mit den Namen, aber alt ist er, und der Dichter, der Dichter mit dem öhh, der hat ein Gedicht drüber gemacht.«
»Hölderlin?«, sagte Schielin sofort.
Kopfschütteln. Blick zur Decke.
»Mörike, Eduard Mörike«, riet Lydia Naber.
»Noi! Der größere …«
»Goethe?«, kam es fast zeitgleich von den beiden Sitzenden.
»Ja!«, lächelte Erich Gommert sie an.
»Der hat kein ö« sagte Schielin.
»Göööthe«, wiederholte Gommert, »heißt er nun Göööthe, oder vielleicht nicht … also mit ö!«
Schielin ächzte. »Der Baum, Gommi, was ist mit dem Baum.«
Der schnippte mit den Fingern. »Bingo! Ah, nein … Gringo …«
»Ginkgo!?«, meinte Lydia Naber.
»Genau! Ginkgo.«
»Ach, den Ginkgo meinst du?«, sagte Schielin.
»Ja sicher. Einer der ältesten Gringos in Deutschland und steht da so unauffällig genau gegenüber der Heidenmauer rum.«
»Woher weißt du eigentlich so was?«, fragte Lydia Naber.
Gommert zuckte mit den Schultern. »So was woiß mer halt. Vielleicht hat der Mord ja was …«
Die anderen beiden warteten gespannt.
»Ja … so was Symbolisches.«
»Mhm«, entgegnete Schielin und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Als Lydia Gleiches tat, verschwand nach einigen Augenblicken der Schatten aus dem Türrahmen, denn auch er hatte noch etwas Wichtiges zu tun.
Conrad Schielin sah an sich herunter. Die Hosen waren wieder einigermaßen getrocknet.
*
Der Termin im Maria-Martha-Stift verlief glimpflicher als Schielin erwartet hatte. Günther Bamms Mutter lebte hier seit über einem Jahr, eine freundliche alte Dame mit weißen, lockigen Haaren. Sie nahm Schielins Nachricht lächelnd entgegen und freute sich aufrichtig, als der Name ihres Sohnes genannt wurde. Von dem, was Schielin ihr berichtete, verstand sie nichts. Sie nickte ein paar Mal ernst und erzählte dann von einem Ausflug mit der Pferdekutsche.
Die Schwester, mit der er sich anschließend auf dem Gang unterhielt, war betroffener von dem, was sie erfahren hatte. Günther Bamm war demnach mehrmals in der Woche im Maria-Martha-Stift. Am Sonntag allerdings hatte sie ihn nicht gesehen, und dass er spät in der Nacht noch bei seiner Mutter gewesen sein könnte, war auszuschließen.
Nach dem Termin im Maria-Martha-Stift nutzte Schielin die Gelegenheit und lief am Ufer des Kleinen Sees entlang bis zur Seebrücke, ging zu der Stelle, an welcher man den Toten gefunden hatte, und suchte nach dem Ginkgo.
Den Rückweg nahm er
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