Heike Eva Schmidt
übergeben«, als ich ihre Stimme hörte: »Hier, trinkt das, junger Herr!«
Ich schlug die Augen auf. Sie hielt mir einen kleinen Tonbecher unter die Nase, dem ein scharfer Geruch entströmte, der mich vage an Urlaub erinnerte. Mit zitternden Fingern griff ich danach und kippte das Zeug auf ex. Flüssiges Feuer schien durch meine Kehle bis in den Magen hinunterzuschießen. Ich schnappte nach Luft, doch unmittelbar darauf breitete sich eine wohlige Wärme in meinem Inneren aus, als hätte jemand einen kleinen Heizstrahler angeknipst. Sogar der Schmerz in meinem Schienbein wurde weniger. Das Brennen war gedämpft und kam nur noch wie durch Watte in mein Bewusstsein.
»Mann, krass! Danke«, stammelte ich noch ganz benommen.
»Das ist kein Gras, sondern eine Pflanze, genannt Anis«, belehrte mich das Mädchen.
Jetzt wusste ich auch, woher ich den Geschmack kannte: Der Ouzo, den ich vor zwei Jahren zum ersten Mal in Griechenland probiert hatte, hatte ähnlich geschmeckt.
Die schöne Helferin fuhr fort: »Die Samen kommen von den straßburgischen und speyrischen Feldern. Man hat sie erst in jüngster Zeit entdeckt. Aber sie sind wohltuend bei Husten und Bauchgrimmen, und im selbstgemachten Branntwein helfen sie gegen kalten Schrecken.«
Ich nickte wortlos. Sie drehte sich um und machte sich im hinteren Teil des Raumes zu schaffen, ehe sie mit einer Handvoll sauberer Leinenwickel zurückkam. Mit geübten Griffen verband sie mein Bein, während sie erklärte: »Getränkt im Sud von Beinwell und Bockshornklee, wird das Eure Blutung stillen.«
Ich nickte nur, weil mir der Anisschnaps auf nüchternen Magen ein Gefühl bescherte, als schwebte ich ein paar Zentimeter über der hölzernen Sitzfläche. Interessiert blickte ich auf ihren Schopf herunter. Ihr Haar schimmerte wie flüssiges Kupfer, und wieder piekte mich ein kleiner Neidteufel. Gegen diese Wuchtbrumme war sogar Sina ein blasses Nichts.
»Wer hat dir die Heilkunst beigebracht?«, fragte ich, obwohl meine Zunge über das Wort »Heilkunst« zu stolpern schien.
»Meine Mutter«, sagte die Schöne nur, und ein trauriger Unterton schien sich in ihre Stimme zu schleichen, ehe sie sich wieder schweigend dem Verband für mein Bein widmete.
»Ich bin übrigens Cat«, sagte ich, um das verlegene Schweigen zu durchbrechen, das wie eine Glaswand zwischen uns stand.
»Ist das die Abkürzung von Conrad?«, fragte sie nach einer Weile, ohne den Kopf zu heben.
»Äh, na ja, fast«, stotterte ich und schob rasch nach: »Und wie heißt du?«
»Dorothea, junger Herr«, antwortete sie scheu, während sie sich eingehend mit meinem Verband beschäftigte, um mir nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
Schlagartig wurde mir klar, dass ich sie mit meiner Art wahrscheinlich total überfuhr, ja, dass es damals vielleicht sogar als »unschicklich« galt, mit einem fremden Jungen zu reden. Es mochte an dem Promillegehalt in meinem Blut gelegen haben, jedenfalls beschloss ich spontan, mich zu outen.
»Hör mal, Dorothea, ich muss dir was gestehen«, fing ich an. Als ich ihren erschrockenen Blick sah, blieb mir mein Satz im Hals stecken. Dachte sie, ich wollte ihr was tun? Wortlos riss ich mir die Männerkappe vom Kopf. Mein halblanger, roter Bob kam zum Vorschein. Und auch wenn meine Haare wahrscheinlich wild nach allen Seiten abstanden, war es für Dorothea nun doch ersichtlich, dass sie keinen Jungen vor sich hatte. Ihre Augen weiteten sich und sie fragte ungläubig: »Ihr seid eine Frau – in Männerkleidung?«
Noch ehe ich eine Erklärung stammeln konnte, breitete sich ein so strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, dass es von innen zu leuchten schien. Wieder war ich total baff, wie ein Mädchen ohne Schminke und sonstige Hilfsmittel so wunderschön sein konnte.
»Das ist so klug von Euch, Cat!«, rief sie begeistert. »Auf diese Weise könnt Ihr Euch frei bewegen und habt weniger Ungemach durch das Mannsvolk, habe ich recht?«
»Kannst du mich bitte duzen?«, bat ich sie, denn dieses »Ihr« und »Euch« ging mir irgendwie gegen den Strich. »Ich meine, so unter uns Mädels«, fügte ich hinzu, als ich ihren unsicheren Blick sah.
Sie nickte zögernd: »Gerne, auch wenn Ihr … ich meine, du … sicher von hohem Stande bist«, sagte sie schüchtern.
»Von hohem … wie kommst du denn darauf?«, fragte ich verblüfft.
»Nun, deine Sprache ist anders als die der meisten Leute«, sagte Dorothea und fügte hinzu: »Deine Hände haben keine Schwielen, und die Haut an deinem
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