Heike Eva Schmidt
Laib Brot und einen Becher heiße, gewürzte Milch vorbeigebracht hatte. Schweigend hatte Grete ihr die tränenüberströmte Wange getätschelt und im Weggehen gemurmelt: »Eine Mutter stirbt halt immer zu früh, Mädchen«, ehe sie nach Hause zurückgeschlurft war. Merkwürdig getröstet hatte Dorothea an der dampfenden Flüssigkeit genippt, die den eisigen Klumpen in ihrem Inneren zwar nicht aufzulösen vermochte, aber den überwältigenden Schmerz wenigstens ein wenig linderte.
Jetzt stand sie vor Gretes Tür und sah das Lächeln der alten Frau, das ihr Gesicht mit 100 Runzeln überzog, wie von einer feinen Häkelarbeit. Dorothea brachte ihre Bitte nach etwas Milch vor und überreichte Grete das Eckchen Käse. Erfreut winkte die Nachbarin sie herein. Die Einrichtung der Stube mit dem grobbehauenen Tisch und den vier Hockern war genauso schlicht wie Gretes Kleidung: Sie trug ein leinenes Oberteil und einen Rock, der über den Knöcheln ihrer bloßen Füße endete. Einzig ein schmaler rotgoldener Reif, der um den Hals der alten Frau lag, stach auffallend aus dem eher ärmlichen Gewand hervor und zog einen Moment Dorotheas Aufmerksamkeit auf sich.
Grete lächelte und hieß sie am Tisch Platz nehmen, während sie ein paar lose Dielen im Fußboden hochhob. Dorothea sah, dass sich darunter ein etwa zwei Schritt breiter, ausgehobener Schacht befand – eine ungewöhnliche Konstruktion für das Haus einer einfachen Frau. Grete langte hinunter und holte einen großen Krug mit sahnigweißer, frischer Milch hervor. Dorothea bewunderte den Scharfsinn der alten Frau. Dort unten im lehmigen Erdreich war es kühl, und die Lebensmittel hielten sich ein paar Tage länger als in der Stube. Und sie waren vor diebischen Füchsen und anderen hungrigen Tieren sicher.
Während Grete etwas von der Milch in ein tönernes Krüglein füllte, sagte sie: »Müd siehst du aus, Dorchen. So als hättest du Kummer.« Ihr Blick, der im Gegensatz zu dem faltigen, frühzeitig gealterten Gesicht jung und wach wirkte, ruhte prüfend auf Dorotheas Gesicht.
Einen Moment lang war sie versucht, Grete alles zu erzählen: von Daniel und dem alten Förg und ihrer überwältigenden Angst. Seit ihre Mutter tot war und Cat verschwunden, hatte sie niemanden mehr, dem sie sich anvertrauen konnte. Gerne hätte sie sich in den Trost und das Verständnis ihrer Nachbarin fallen lassen, wie ein Vogel, der die Schwingen ausbreitete, um sich von einem hohen Turm in den Wind hineinzustürzen. Doch dieser Wunsch währte nur eine Sekunde, sogleich gewann ihre Vernunft wieder die Oberhand. Je weniger Leute von ihr und Daniel wussten, desto geringer war die Gefahr, dass ihr Geheimnis enthüllt wurde.
Also schüttelte Dorothea nur schweigend den Kopf und versuchte ein Lächeln. Um zu verhindern, dass sie doch noch schwachwurde und alles erzählte, bückte sie sich und streichelte Gretes gescheckte Katze, die ihr seit geraumer Zeit schon um die Beine strich. Ein lautes Schnurren ließ den dünnen Körper vor Wohlbehagen erzittern. Unwillkürlich musste Dorothea lächeln. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass die alte Frau keinen Blick für sie und das Tier hatte. Stattdessen starrte sie auf einen Punkt, der außerhalb von Dorotheas Wahrnehmung zu liegen schien.
»Grete, ist etwas geschehen?«, wagte Dorothea zu fragen.
Aber die alte Frau schien sie nicht zu hören. Ihr Blick blieb starr und nach innen gekehrt, ehe sie sich mit schmalen Lippen zu Dorothea umwandte. »Ich scheine Besuch zu erhalten«, sagte sie knapp. »Aber es ist etwas Dunkles, das sich nähert. Ich sehe eine Gefahr – vor allem für dich, Dorchen!«
Dorothea zuckte zusammen. Schon oft hatte sie die Leute munkeln hören, die alte Grete könne die Zukunft vorhersagen. Doch bisher hatte sie nicht viel auf diese Gerüchte gegeben.
Die Alte spähte angespannt durch das trübe, kleine Fenster nach draußen, ehe sie sich umwandte und sagte: »Ich kann ihn schon in der Ferne sehen. Es ist der oberste Richter Bambergs.«
Wäre eine Ratte unter Dorotheas Stuhl gehuscht, sie hätte nicht hastiger aufspringen können. Beinahe wäre der Stuhl umgefallen. Gretes Katze flüchtete erschrocken in eine Zimmerecke. Dorothea blickte sich panisch in Gretes einfacher Stube um. »Ihr müsst mich verstecken, Grete, ich flehe Euch an! Förg lauert mir seit geraumer Zeit auf. Wenn er mich hier findet, dann …«
Sie konnte nicht weitersprechen. Die Furcht schnürte ihr die Kehle zu, als habe ihr jemand einen Hanfstrick um
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