Heike Eva Schmidt
Jakob«, sagte sie und fuhr fort, ehe er sie unterbrechen konnte: »Ich könnte nie Mutters Haus und meine Heilkunst aufgeben. Beides bedeutet mir viel. Es gibt mir Freiheit.«
Jakob setzte eine missbilligende Miene auf: »Du weißt, ich war nie damit einverstanden, dass Mutter dich wie einen Jungen aufgezogen hat. Eine Frau sollte nicht nach Freiheit streben, sondern nach einem guten Mann, Kindern und …«
»Jakob – bitte! Das hast du mir nun schon so oft gesagt! Du weißt, dass ich dir nie zugehört habe, und ich werde es auch in Zukunft nicht tun«, sagte sie energisch. »Außerdem haben wir nicht die finanziellen Mittel …«
Als sie sah, wie bekümmert ihr Bruder wirkte, regte sich ihr Gewissen. Liebevoll legte sie den Kopf an Jakobs Schulter und sagte leise: »Sorge dich nicht um mich. Mir wird nichts passieren, ich verspreche es dir.«
Doch als ihr Bruder fort war, fiel Dorotheas gespielte Stärke von ihr ab. Sie fühlte sich wie ein nacktes, schutzloses Vogelküken, das aus dem Nest gefallen war und jeden Moment von der hungrigen Katze gefressen werden konnte. Denn nichts anderes war sie für Förg: eine leichte Beute. Wie sollte sie als einfache Frau gegen einen Mann von hohem Stand ankommen? Mit zitternden Fingern verschloss sie die Türe und stellte noch einen massiven Holzstuhl davor. Doch sicher fühlte sie sich trotzdem nicht.
Auch Daniel bemerkte ihre veränderte Stimmung, als er in der folgenden Nacht leise ihr Geheimzeichen ans Fenster klopfte: dreimal kurz, einmal lang, viermal kurz. Sie hatten damals gefunden, es klänge wie »Da-ni-el und Do-ro-the-a«, und darüber gekichert wie zwei übermütige Kinder.
Nun war nichts mehr von der einstigen Leichtigkeit zwischen ihnen zu spüren. Dorotheas Gedanken kreisten um den Besuch des alten Richters. Die Furcht, er werde bald zurückkommen, haftete so zäh an ihrem Körper wie klebriges Harz an einem Baumstamm.
»Meine Liebste, was blickst du so schwermütig drein?«, fragte Daniel mit seiner dunklen Stimme und drehte behutsam Dorotheas Kinn zu sich, so dass sie ihn anblicken musste.
Sie tauchte in seine Aquamarinaugen ein wie in einen kühlen, klaren See und wünschte sich, sie könnte sich für immer darin treiben lassen. Sorglos, schwerelos. Ich liebe ihn so sehr, dachte sie. Doch wie sollte sie ihm klarmachen, was sie bedrückte? Es war ja so schon schwer genug für Daniel, sich unbemerkt aus dem Haus seines Vaters wegzuschleichen. Dorothea hatte ihm sogar, entgegen ihrer sonstigen Gesinnung, einen leichten Schlaftrank mitgegeben, den er dem Richter allabendlich in den Wein mischte. Auf diese Weise war die Gefahr geringer, dass der Alte nachts aufwachen und das Fehlen seines Sohnes bemerken würde.
Kraftlos wie ein müdes Kätzchen, lehnte Dorothea den Kopf an Daniels Brust. Sie schwieg, denn es gab nichts zu sagen.
»Es ist wegen meinem Vater, nicht wahr«, fragte Daniel, und als Dorothea kaum merklich nickte, spürte sie, wie sich sein Brustkorb unter einem tiefen, mutlosen Seufzer hob. Er wollte noch etwas sagen, doch rasch verschloss sie seinen Mund mit einem Kuss. In dieser Nacht redeten sie nicht mehr viel, und Daniel hielt sie umschlungen, bis draußen der erste Vogel die heraufziehende Morgenröte besang.
Einige Tage lang hatte Dorothea ihre Pflichten wegen Daniel schmählich vernachlässigt. Nun war ihr die Milch ausgegangen, und sie würde ihre Nachbarin, die alte Grete Haan, um Hilfe bitten müssen. Im Gegenzug wollte ihr Dorothea etwas Käse anbieten, den sie noch in der Speisekammer gefunden hatte. Grete lebte zurückgezogen in ihrem Häuschen, das so krumm und schief in der Landschaft stand, dass es selbst wirkte wie eine alte Frau, die immerzu lauschend den Kopf schief legte. Gesellschaft leisteten Grete nur ihre gefleckte Katze und zwei zerfledderte Hennen, die für sie Eier legten. Eine magere Kuh lieferte die Milch. Mehr brauchte die genügsame Frau nicht zum Leben.
Einige Leute fürchteten sie und tuschelten hinter vorgehaltener Hand, »die Haanin« sei mit der Zauberei vertraut. Bisher hatte sich aber niemand offen gegen sie gestellt. Dorothea war bekannt, dass viele Frauen, manche sogar von hohem Stand, bei Grete vorstellig wurden, wenn es mit dem lang ersehnten Stammhalter nichts wurde oder der Gatte zu oft nach einer anderen schaute. Dorothea wusste nicht, inwiefern Grete tatsächlich magische Kräfte besaß, aber sie mochte die ältere Frau, die immer freundlich gewesen war und ihr nach Mutters Tod einen
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