Heike Eva Schmidt
etwas dagegen tun zu können, schossen mir die Tränen in die Augen. Die einfachen, ruhigen Tonfolgen ließen mein Herz weit werden, als hätte es Flügel und würde diese jetzt ausbreiten. Stumm lauschte ich dem Choral.
Als der Gesang verstummte und einer der Patres nach vorne trat und ein lateinisches Gebet sprach, wurde ich abrupt aus meiner Verzückung gerissen. Schließlich war ich nicht hier, um gregorianischen Gesängen zu lauschen, das konnte ich auch zu Hause auf Youtube tun, falls ich das Ganze hier überlebte. Ich musste dringend Jakob finden!
Im selben Augenblick merkte ich, dass mein Nebenmann mich strafend musterte. Es dauerte einen Schreckensmoment, bis ich begriff: Ich war die Einzige, besser gesagt, der Einzige, der nicht mitbetete. Also murmelte ich ein paar unverständliche Worte in meine Kutte, bis das Gebet zu Ende war und sich die Versammlung auflöste. Rasch drängte ich zur Kirchenpforte, wo ich Posten bezog und die herauskommenden Mönche einer möglichst unauffälligen Musterung unterzog.
Gerade als ich glaubte, Jakob schon verpasst zu haben, erspähte ich ihn. In sich gekehrt und mit verschlossener Miene kam er als einer der Letzten aus der Kirche und wollte ohne einen weiteren Blick an mir vorbei. Es gelang mir, ihn am Ärmel seiner Kutte zu packen. Unwillig wandte er den Kopf. Er riss die Augen auf, und sein Gesicht nahm einen ungläubigen Ausdruck an. Hastig legte ich den Finger an die Lippen und winkte ihn mit einer Kopfbewegung in den Seitenflügel. Jakob sah sich hastig um, ob uns jemand beobachtete. Unvermittelt packte er mich an den Schultern. Bei seiner Berührung durchfuhr mich ein Kribbeln, wie nach einem Tütchen Brause, das man auf einmal heruntergeschluckt hatte. Ehe ich’s mich versah, hatte er mich in einen der Beichtstühle geschoben. Dort hockte ich nun wie ein armer Sünder. Jakob klappte das kleine holzvergitterte Fenster vor mir auf. Schemenhaft konnte ich die Umrisse seiner markanten Gesichtszüge erkennen. Er musterte mich finster. Mit einer Absolution konnte ich wohl nicht rechnen.
»Was tust du schon wieder hier, und was fällt dir ein, dich als einen der Unseren auszugeben?«, zischte Jakob.
Ich seufzte lautlos. Irgendwie war in unserem Verhältnis der Wurm drin. Ich kriegte jedes Mal Hitzewallungen und Herzklopfen, wenn ich ihn sah, und er einen Wutanfall. Kein Wunder, wenn ich ihn dauernd überfiel wie einer der Dalton-Brüder die Bank in Kansas.
Trotzdem war es einfach ungerecht. Warum konnte ich nie auf normalem Weg einem Jungen begegnen? Meine Eltern hatten sich auf einer Geburtstagsparty der besten Freundin meiner Mutter kennengelernt. Sie hatte meine Eltern einander vorgestellt, als »Losing My Religion« von REM lief. Als ich auf Sylt das erste Mal mit Olli zusammengetroffen war, hatte »Heute satteln wir die Hühner« aus den Lautsprecherboxen bei der Strandparty gedröhnt. Wäre ich nicht so fasziniert von Ollis Sixpack gewesen – er hatte gerade sein T-Shirt ausgezogen –, hätte mir da bereits klar sein müssen, dass aus uns nichts werden würde. Oder hätten wir uns zehn Jahre später verliebt ansehen und beim Partykracher dieses norddeutschen Spaßduos zärtlich flüstern sollen: »Hör mal, Schatz, sie spielen unser Lied?«
Und da traf ich jetzt endlich mal wieder einen Typen, der mir gefiel und was passierte? Zuerst hielt er mich für einen Jungen, weil ich in sackartigen Männerklamotten steckte und eine Kappe aufhatte, mit der ich aussah wie Hein Blöd, und bei unserem zweiten Treffen saß ich im Beichtstuhl. Als ich aber daran dachte, weshalb ich gekommen war, wurde mir das Herz schwer. Leise sagte ich: »Es geht um Dorothea. Ich war in eurem Haus, und es ist … also, es war …«
»Ein Brand hat dort gewütet, ich weiß«, sagte Jakob knapp.
»Was ist mit deiner Schwester, wurde sie verletzt? Oder gar …« Ich stockte. »Getötet« wollte ich noch nicht einmal denken, geschweige denn aussprechen.
Jakob schüttelte stumm den Kopf. Sein schöner Mund war in einem Kummer, den nur er kannte, nach unten gebogen. Erst jetzt fiel mir auf, wie schmal sein Gesicht geworden war. Als er den Kopf hob und mich anschaute, erschrak ich vor seinem resignierten, matten Blick. Seine Augen, die bei unserem letzten Treffen noch klar und wach gefunkelt hatten, waren so stumpf wie grauer Schiefer. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen verlor ich die Geduld.
»Mann, Jakob, nun vergiss doch mal dieses dämliche Schweigegelübde«, raunzte ich und
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