Heile Welt
gelegt: Dies hier später noch einmal ansehen und jenes… Matthias erwärmte sich für ein Skizzenbuch, auf dem stand«Pommern 1943», das ihm allerdings aus der Hand genommen wurde und weggelegt, das hatte hier nichts zu suchen, gut, daß man es bei dieser Gelegenheit wiedergefunden hatte.
Sie habe leider so gar keine Ahnung, wieviel wert das alles sei, sagte Ellinor. Keine Ahnung, wieviel man zum Beispiel für dieses Aquarell verlangen könnte, und hielt ein Blatt den Gästen hin. Immer mehr Bilder wurden emporgehalten, und immer wieder wurde gefragt, wieviel das wohl wert sei. Einmal sagte jemand:«Fünfhundert Mark?»Es kam nicht heraus, ob das viel zuviel oder viel zuwenig war.
Jedenfalls versprach Säckel, er wolle sich erkundigen. Eine Studie der Dorfstraße, mit Omnibus und Gänsen, die über den Weg laufen, legte er beiseite. Dies könnte er in Karlsruhe mal einem Händler zeigen… dazu müßte er sie allerdings mitnehmen…
Ellinor schob es sacht wieder in den Schrank. Es war klar, daß sie keines der Blätter je aus der Hand geben würde, nicht ein einziges. Und schon gar nicht dieses: Sie wußte, was es mit dem Omnibus auf sich hatte. Das war 1931 gewesen. Sie hatten die Mutter erwartet damals, und es war dann doch nicht so schön geworden, wie sie gedacht hatten. Es war alles anders geworden, und eines Tages war die Mutter weggefahren und nicht wiedergekommen.
Als sie sich eben wieder gesetzt hatten, in den Erker, mit Blick auf Ernst Werner von Kallroy neben seinem Lichtschalter, fuhr ein Auto vor. Ellinor ging hinaus und brachte drei Herren herein, in dunklen Anzügen, als ob das eine Kommission wär, so sah das aus, das waren die Dramaturgen aus Bremen, trotz Schlips und Kragen absolut locker.
Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, zum 20. Juli ein Tanztheater zu inszenieren, und zwar nach Bildern des ermordeten Künstlers, ungeachtet dessen, daß Ernst Werner von Kallroy mit dem 20. Juli überhaupt nichts zu tun gehabt hatte, der hatte eher der Roten Kapelle nahegestanden…
Alle möglichen Bilder wurden noch einmal angesehen, und Kommentare waren zu hören, die denen von Säckel und Matthias ähnlich waren, und Ellinor, das wurde klar, hörte sie nicht zum erstenmal. Die Herren fotografierten alles, was sie vor die Flinte kriegten – der Künstlertochter war das eigentlich nicht recht.
Ernst Werner von Kallroy – ein Künstler aus dem Weichbild Bremens, den kein Mensch kennt… und noch dazu im KZ umgekommen? Der mußte doch endlich mal herausgestellt werden! Vielleicht bei der Gelegenheit mal anständig anprangern, daß in Sassenholz die Fresken womöglich zugestrichen werden sollen. Um Gottes willen, wer denkt denn an so was?
Die Herren verlangten Kaffee, für Teegeplürre seien sie nicht zu haben, und sie steuerten auf den Erker zu, wo Matthias, der Dorfschulmeister, und der Volkshochschulkunstmaler Alfons Säckel die Ereignisse verfolgten.
Matthias wollte sich schon entfernen, aber da geriet er plötzlich in den Mittelpunkt, Ellinor erzählte den Herren nämlich, daß er«eingesessen»habe, drüben, ich weiß nicht wieviel Jahre, und da durfte er dann alles erzählen, von vorn bis hinten, was sonst kein Mensch hören wollte. Und das tat er auch, schlicht, tonlos, vom Zellenfenster erzählte er, durch das er die Uhr hatte sehen können, von den Klopfzeichen vom obersten Stockwerk bis in den Keller hinunter. Er erzählte alles bis auf das«Eigentliche». Das kam nicht über seine Lippen.
Na, das wär’ doch wunderbar – sagt einer der Herren, genauso einfach und schlicht, wie er das da eben erzählt habe, genauso könne er das doch mal auf der Bühne tun, auf der Studiobühne im Kleinen Saal, die ganze Bühne schwarz, nur von oben ein scharfer Lichtstrahl, der trotz der Schärfe sanft und milde sei, das Publikum sähe er gar nicht, da brauche er keine Angst zu haben.
Möglicherweise erwogen sie schon, daraus ein Lichtballett mit Gitterdekorationen zu inszenieren: Zuerst kauert der Gefangene in einer Ecke, dann erhebt er sich allmählich, wächst zu zitternder Größe und reckt sich gegen die Gitter?
Einer der Herren sagte, er könne gar nicht verstehen, daß Matthias da drüben so übel mitgespielt worden sei, er persönlich fahre alle naslang nach Ostberlin rüber, da seien die Leute aufgeschlossener als man denkt, man dürfe sie natürlich nicht reizen. Auf Einladung des Kulturbundes sei er sogar schon in Minsk gewesen.
«Wegen was hat man Sie denn eigentlich
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