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Heile Welt

Heile Welt

Titel: Heile Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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feig!»
    Er hatte Orff-Instrumente mitgebracht, darauf wurde«der alte Kastalter»eingeübt,
    Ein alter Kastalter von siebenzig Joahr
tiiidedelidüh, tiiidedelidüh…
    Matthias durfte die Triangel schlagen.
    Er hatte so was noch nie gehört, das Orffsche Xylophongeglocke, afrikanische Trommeln, dazu Zimbeln, Päukchen und Schlagstäbe aus geöltem Teakholz… Das war ein Klang, den man nie vergessen würde, angenehm und neuartig. Und als dann noch die Flötenspielerin ihre Triller aus dem Metallophongeglocke heraus aufsteigen ließ, da fragte keiner, ob man nicht mal wieder eine Pause machen könne? Matthias wurde sehr gelobt, daß er die Triangel immer zur rechten Zeit schlägt, und er vollbrachte es mit abgespreiztem kleinen Finger.

    Füllgräber, der Deutschdozent, war ein richtiger Germanist, sogar irgendwie Professor, wenn auch PH, also irgendwie nur zum Professor ernannt, und sich nicht durch diverse Schikanen gequält. Er befaßte sich seit Jahren mit einer Chronopse der frühen Schiller-Werke, er wollte wissen, was Goethe, Wieland und Herder an ein und demselben Tag gemacht haben wie Schiller, zur selben Stunde möglichst sogar? Ihn interessierte die skandalöse Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die zwar überhaupt nichts miteinander zu tun haben, aber doch aufschlußreich sind, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet. Schaden konnte das jedenfalls nicht.

    Füllgräber, der sich den«Professor»verbat, aber doch einschnappte, wenn man ihn beim nackten Namen nannte, neigte dem Unterrichtsalltag zu, dem täglich Brot, dem also, was die Lehrer auch wirklich würden gebrauchen können.
    Er sagte bei jeder Gelegenheit zunächst einmal«Ja!»und stimmte dauernd zu. Alles, was man sagte, war absolut in Ordnung, auch wenn man es noch gar nicht ausgesprochen hatte. Als er es vielleicht schon etwas zu oft in die Gegend gerufen hatte, dieses zustimmende«Ja!», verstärkte er es durch:«Mit Sicherheit! – Mit Sicherheit, ja!»Und der Assistent, den er mitgebracht hatte, der sagte auch:«Mit Sicherheit, ja! – Absolut in Ordnung, unbedingt», was auch immer gerade geäußert worden war.

    Während des Abendessens lehnte er sich beim Pfefferminzteeschlürfen zwar auch dem schwer atmenden Kursleiter entgegen, aber das«feig! feig! feig!»relativierte er durch verstärkte Zustimmung.«Mit Sicherheit, ja!»sagte er, als er gefragt wurde, ob die Kriegsgeneration nicht feig gewesen sei? Feig? Feig? Feig? – Er nahm sich mit der Gabel eine Scheibe Preßkopf und sagte kurz und knapp:«Mit Sicherheit, ja!»und das klang so, als ob ihm alles schnurz und piepegal sei.«Gute Nacht, Kameraden…»Stammführer bei der Hitlerjugend war er gewesen, das sickerte durch.
    Er redete stark mit den Händen, und mit der Andacht war’s vorbei, als der Puppenspieler in der zweiten Reihe auf die Idee kam, mit seinem Kasperle kaum merklich die Gesten des Vortragenden nachzuahmen.

    Matthias fühlte sich in Lesseps ausgesprochen wohl. Er kannte niemanden, und niemand kannte ihn, hier war man mal ganz ungestört und konnte sich auslüften in jeder Hinsicht. Am zweiten Tag stieß noch ein Kollege aus dem Schulaufsichtskreis Kreuzthal hinzu, das war nicht weiter unangenehm, das war einer aus der Seglerkameradschaft, der auch seine Ruhe haben wollte.

    Leider hängte sich schon am ersten Tag ein weicher Mensch an ihn, ein blaßlippiger, äußerst dünner und dabei großer Mensch, ein Flüchtling aus Bernburg, der sich zu ihm hinunterbeugte und ihm all das Unglück berichtete, das ihm bisher widerfahren war und ihn weiterhin verfolgte. Einen handgestrickten Pullover trug er, dessen Perlmuttknöpfe auf der Schulter nicht stramm saßen, sie baumelten herunter, und eine der Ösen war ausgerissen, die Ärmel auch irgendwie zu kurz. Durch den hohen Rittersaal ging er nur gebückt: Er war schon zu oft mit dem Kopf angestoßen.«Wo gehen Sie jetzt hin?»fragte er Matthias, wenn der sich auf das Klo begeben wollte.
    Und:«Ich habe Ihnen einen Platz freigehalten», mittags bei Tisch, wenn Matthias dem besonderen Stuhl zusteuerte, von dem aus er das BDM-Fräulein mit den Socken beobachten konnte, ob die sich mit’m Schwung hinsetzt oder ganz behutsam.

    Aus einsamen Parkspaziergängen im Schnee, bei geöffnetem Mantel, und der Wind weht dann das Haar so auseinander, bei denen man ein wenig Graf spielen kann, wurde nichts, da drängte der Mensch hinter ihm her oder kam ihm entgegen:«Ah! Hier sind Sie, ich suche Sie schon überall!»Und dann drängte er

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