Heile Welt
neben ihm her, stieß gegen Unterholz und rutschte aus auf dem nicht geräumten Wegrand und servierte Matthias eine Pechsträhne nach der anderen.
Familiär hatte der Mann einiges hinter sich, im Waisenhaus groß geworden, weil Vater und Mutter sowie seine kleine Schwester bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen waren. Nach dem Krieg dann in den Westen geflüchtet mutterseelenallein – hatte also alles im Stich gelassen, was lieb und teuer war, die kümmerlichen Reste des Hausrates, nur die Mundharmonika der kleinen Schwester mitgenommen. Später war ihm die Ehefrau, die er hier im Westen nach langem eindringlichen Werben hatte gewinnen können, weggelaufen, mit Zettel auf dem Küchentisch, so in diesem Stil, äußerst brutal und mit schlimmen Ausdrücken, die er hier nicht wiederholen will. Und die gemeinsame Tochter am Arm mit sich gerissen… Schon Wochen vorher Geschirr und Wäsche heimlich beiseite geschafft, als er noch an nichts Böses dachte.
Dann ihr hinterhergefahren, ob nicht doch noch was zu machen ist, und da hatte die kleine Tochter ihm die Zunge rausgestreckt! Natürlich negativ beeinflußt von der Mutter bis dorthinaus. Mit der Mundharmonika hatte sie Nägel in die Wand geschlagen, das falle ihm eben noch ein…
Ob Matthias meinte, daß der Lehrerverein da was machen könnte? Er sei der Ansicht, wenn sich ein älterer Kollege mal auf den Weg machte und ihr ins Gewissen redete, dann könne vieles wieder geradegerückt werden.
Auch mit der Schule kam er nicht zurecht: Ein unangenehmer Kollege stand ihm als Hauptlehrer vor der Nase, der den Mädchen beim Geräteturnen sehr sonderbare Hilfestellungen zuteil werden lasse, obwohl man doch gehalten sei, jeglichen Berührungskontakt zu vermeiden? Er selbst sei Ganzheitler, sein Hauptlehrer hingegen trockener Synthetiker, im Sommer draußen am offenen Fenster seiner Klasse gestanden, sich von außen hineingereckt in die Klasse und sich in seinen Unterricht gemischt: Aber so doch nicht, Herr Kollege…, und das vor allen Kindern!
«Der Garten zum Beispiel… obwohl wir von vornherein abgemacht hatten, daß die Grenze am Rhabarberbeet vorbei bis hinüber zu den Stachelbeeren verläuft…», immer wieder zwacke er ihm was ab oder sage:«Sie haben wieder das Unkraut nicht entfernt…», obwohl er selbst die Pusteblumen im letzten Jahr nicht ausgerodet habe. So was müsse man sich mal vorstellen!
Wenn Matthias mal was einzuwenden hatte, so schlimm werde es schon nicht sein, der Faktor Zeit sei nicht zu unterschätzen, der bringe vieles wieder in Ordnung, er selbst habe diverse Lebensstarts gebraucht…, lief der andere erst recht auf, vielleicht könne man sich heute abend während der Kaminstunde ja mal auf dem Gang treffen, und dann werde er ihm Sachen erzählen, also Sachen…
Schließlich wurde Matthias von dem Seglerkameraden gerettet, der schleppte ihn ab, und obwohl der Bernburger in seiner Anhänglichkeit Zeichen um Zeichen machte, er hätte Matthias ja noch gar nicht erzählt, daß er Asthmatiker sei…, erreichten sie ungehindert das Dorfgasthaus, wo sie sich ein Jägerschnitzel genehmigten und Bier und Nordhäuser Korn dazu und dann alles mal so richtig erfrischend durchhechelten, die Leute hier im Kursus, einen nach dem andern, die von«Brechmittel»bis«anständiger Kerl»reichten, und natürlich auch die Kollegen im Schulaufsichtskreis Kreuzthal: So manches Tränentier war zu bezeichnen. Ob er sich nicht bald mal beweiben will?, fragte ihn der Seglerkamerad.
Beweiben? – Kaum zu glauben, daran hatte Matthias auch schon gedacht. Aber im Baltikum, so wußte er, heirateten die Männer auch erst mit fünfunddreißig.
«Und dann’ne ganz Junge, was?»rief der Kollege.
In einer unerklärlichen Sympathieaufwallung schenkte ihm der Seglerkamerad eine von Nordseewellen rundgeschliffene Tassenscherbe, die er immer bei sich trug, als Talisman. Sofort kriegte Matthias Schiß: daß er das Dings verliert. Sicherlich würde er es doch vorzeigen müssen, jedesmal, wenn man sich wiedersieht?
Das Kartensystem, seine Sesam-open-you-Sammlung, die er auf diesem Kursus vervollständigte, gefiel dem Bernburger: Was er da schreibt?, wollte er von Matthias wissen, so verschiedene Karten? Gelbe, grüne, rote? Das war ja sehr zu bewundern! Das wolle er auch übernehmen, dieses System, sobald er wieder zu Hause ist, und er bat Matthias um nähere Anweisungen, und den Ausdruck«Sesam-open-you»fand er fabelhaft. Die Hälfte seiner Schüler sei nämlich asozial
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