Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
Kenntnisse über den Inhalt der Heiligen Schrift haben. Fast neunzig Prozent der Deutschen lesen laut Angaben des Instituts für Demoskopie Allensbach selten bis nie in der Bibel, unter den Sechzehn- bis Neunundzwanzigjährigen blättern sogar nur sieben Prozent regelmäßig im vermeintlichen Wort Gottes. Selbst die Kirchenmitglieder studieren die Heilige Schrift nicht mehr: Sechzig Prozent der Katholiken und Protestanten sagen, dass sie nur ausreichende bis gar keine Lektürekenntnisse besitzen. Vielleicht liegt das daran, dass wir einfach noch nicht den richtigen Moment gefunden haben, um sie mal in die Hand zu nehmen.
ANNE ERZÄHLT
Es grenzt an ein Wunder, dass ich die Klingel überhaupt gehört habe, so laut wummert die Partymusik. Außerdem habe ich schon amtlich einen im Tee. Mein alter Freund Sven steht vor der Tür. Aber was ist das da neben ihm? Hat der schon wieder eine neue Frau am Start? Die können noch nicht viel länger zusammen sein als dreieinhalb Wochen, überlege ich sofort, denn da hat er sich von seiner letzten Freundin getrennt.
»Das ist Tanja«, klärt er mich sogleich auf. »Wir sind jetzt seit drei Wochen zusammen.«
»Drei Wochen und drei Tage«, korrigiert ihn das überirdisch blonde Wesen im pinken Pulli an seiner Seite. Eine zierliche Hand streckt mir ein Paket in Glitzergeschenkpapier entgegen. »Alles Gute zum Geburtstag! Wir haben dir auch was mitgebracht!«
Zu dieser Fete habe ich richtig groß eingeladen. Schließlich ist es mein Dreißigster, und danach soll ja bekanntlich das Erwachsenenleben losgehen. Viele Freunde und ehemalige Studienkollegen sind da, und auch meine beste Freundin Alina, die ich mit meinem guten Freund Bodo verkuppelt habe. Ein Erfolg, auf den ich schon ein wenig stolz bin, auch wenn Alina vehement behauptet, sie hätten das auch ohne mich hingekriegt.
Sven ist der einzige meiner Gäste, den ich schon so lange kenne, dass wir zusammen auf dem Schulhof Völkerball gespielt und Panini-Bildchen getauscht haben. Er ist ein lieber Kerl. Aus irgendeinem Grund hat er allerdings eine Schwäche für Frauen, die normalerweise mit George Clooney ausgehen. Während ich versuche, Tanja zu fokussieren, kommt mir bei ihrem Anblick auf mystische, ganz und gar unerklärliche Weise das rosa Zauberpony in den Sinn, das auf dem Nachttisch meiner kleinen Nichte wohnt.
»Danke«, sage ich und nehme das Päckchen entgegen. Sven und Tanja gehen hinter mir her in die Küche, wo das Buffet steht. »Was wollt ihr trinken? Es gibt ...«
»Du musst erst das Geschenk aufmachen!«, unterbricht mich Tanja.
»Ist sicher ein Buch«, vermute ich und wiege es in der Hand.
Sven scheint das verlegen zu machen. »Falls du’s schon hast ...«
»Ach Unsinn!«, sagt sie. »Das ist eine Schmuckausgabe!«
Ich wickele den Wälzer aus dem Papier. Das Werk kommt mir vage bekannt vor: eine Bibel!
»Das ist ja ...«
»Siehste, wusste ich doch, sie hat keine!«, triumphiert das Zauberpony. »Die ist besonders schön gestaltet!«
»Tanja ist Mitglied in einer Freikirche«, erklärt Sven und nimmt sich ein Bier.
Inzwischen sind Bodo und Alina zu uns getreten.
»Wahnsinn«, sagt Alina und streckt sogleich die Hände danach aus. »Eine Bibel! So was habe ich schon irrsinnig lange nicht mehr in der Hand gehabt. Hammer!«
Ich schicke mich an, die Heilige Schrift auf den Geschenketisch zu legen, da hat Alina sie sich schon gegriffen.
»Wisst ihr was«, sagt sie mit leuchtenden Augen, »statt Flaschendrehen spielen wir jetzt mal Bibelstechen. Das kenn ich von meiner Oma an Silvester, da hat sie uns fürs neue Jahr geweissagt«, sagt sie und beginnt darin zu blättern. »Altes und Neues Testament, die Evangelien Matthäus, Markus und Lukas …«
»… Podolski?«, wirft ihr Freund ein.
»Ach, komm schon, Bodo«, sagt Alina und muss ein Kichern unterdrücken. »Welche Frage beschäftigt dich?«
»Werden wir dieses Jahr noch zusammenziehen?«, fragt er aufs Geratewohl.
Alina schließt die Augen, schlägt die Bibel auf und fährt mit dem Finger auf der Seite entlang. Dann blickt sie auf die Stelle, auf der ihr Finger liegt.
»Besser in der Ecke des Daches wohnen, als eine zänkische Frau im gemeinsamen Haus« , liest sie vor.
Alles lacht, und Bodo drückt seine Freundin grinsend an sich.
»Ach so«, sagt er, »du bist ein streitlustiges Weib. Das hättest du mir aber auch gleich sagen können.«
Es sind inzwischen auch andere Gäste herangekommen, und das Bibelstechen erweist sich als echter
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