Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
sich, als ihr Geliebter erkrankt, keinen anderen Ausweg weiß, als erneut durch die Betten zu hüpfen, um ihm eine Operation zu finanzieren. Schließlich leistet sie ihm Sterbehilfe und bringt sich anschließend selbst um. Die Story war schon für damalige Verhältnisse ein apothekenpflichtiges Schlafmittel; den Zündstoff lieferten eher die klaren Verstöße gegen die prüde Moral.
Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft ( fsk ), der auch Abgesandte der beiden Kirchen angehörten, wollte den Film zunächst nicht freigeben, mit der Begründung, dass die Protagonistin »die Prostituierung als einen selbstverständlichen Ausweg aus ihrer menschlichen und wirtschaftlichen Notlage wählt«. Als der Streifen dann doch in die Kinos kam, sorgte er für wochenlange Diskussionen und öffentliche Proteste. Priester warfen Stinkbomben in Kinos, und Flugblätter mahnten: »Die Sünderin – ein Faustschlag ins Gesicht jeder anständigen deutschen Frau! Hurerei und Selbstmord! Sollen das die Ideale eines Volkes sein?«
In Köln dämmerte Erzbischof Joseph Kardinal Frings im matten Schein der blanken Brüste bereits der Untergang des Abendlandes, er warnte: »Ein Christ, der trotzdem diesen Film besucht, auch wenn er glaubt, es ohne unmittelbare Gefahr für seine persönliche sittliche Unversehrtheit zu können, gibt Ärgernis und macht sich mitschuldig an einer unverantwortlichen Verherrlichung des Bösen.« Angestachelt vom Zorn der Gerechten lieferten sich Jugendliche vor den Kinos sogar Schlägereien. Ihr Motto: »Heil’gem Kampf sind wir geweiht, Gott verbrennt im Zornesfeuer eine Welt.«
Willkommen im Deutschland der fünfziger Jahre, in einer Gesellschaft, die kirchliche Dogmen und Moralvorstellungen noch bierernst nimmt. »Deutschland war eine Art Kirchenstaat, strenger als der Vatikan«, erinnerte sich Sexpapst Oswalt Kolle in einem Fernsehinterview kurz vor seinem Tod im Jahr 2010. »Dort haben die Priester noch fröhlich rumgemacht, aber in Deutschland durften noch nicht mal die normalen Leute fröhlich rummachen.« Die Kirche befand sich auf dem Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Einflusses. Das Grundgesetz sei »im Schatten des Kölner Doms entstanden«, hielt der evangelische Pastor und spd -Minister Heinrich Albertz fest und spielte damit auf die enge Verknüpfung von Religion und Politik an. Die eine Hälfte der Deutschen war Mitglied in der katholischen Kirche und die andere in der evangelischen. Dass sich das so gehörte, war damals klar wie Asbach Uralt. Der Besuch des Gottesdienstes war Pflicht, und regelmäßiges Beichten gehörte zum Alltag wie heute der morgendliche Coffee-to-go.
Mittlerweile sehen wir mit einer Mischung aus Befremden und Faszination auf diese Zeit zurück und fragen uns, wie man so in Gottes Namen ein glückliches Leben führen konnte. Die Moral war dermaßen spießig, dass dagegen heute manches Eifeldorf wie eine Hippiekommune wirkt. Sonntags zog sich Opa zur Feier des Tages den feinen Anzug an, Oma brezelte sich mit der Föhnhaube die Frisur auf einen tuffigen Höchststand, und Punkt zehn saß man in der Kirche, trällerte mit dem Gesangbuch in der Hand zur Melodie der Orgel und lauschte Seiner Obrigkeit, dem Herrn Pastor. Nach der Andacht unterhielt man sich noch mit dem halben Dorf, bevor es zum Mittagessen ging – Schnitzel, Roulade oder Sauerbraten mit sämiger Soße, Sättigungsbeilage und Dosengemüse. Wer heute seine Sonntage auf diese Art verbringt und das auch noch öffentlich zugibt, gilt nicht als retro-chic, sondern eher als reif für die Rente.
Wer damals keinen Sex vor der Ehe hatte, der war noch tugendhaft und nicht wie heute ein Freak für die Talkshow. So warnte die katholische Kirche in ihren Aufklärungsschriften: »Wenn du, Mädel, beim Tanz von einem Burschen aus dem Saal geführt wirst, beginnt für dich das Elend.« Für Beihelfer zum Beischlaf konnte es übel ausgehen, gerade wenn es sich um einen der eigenen Sprösslinge handelte: Wer im Haus seiner Eltern schnackselte, der riskierte, dass die eigenen Erzeuger im Knast landeten – denn für die sogenannte »Elternkuppelei« drohten den Erziehungsberechtigten bis zu sechs Jahre Gefängnis. Natürlich schwante damals noch niemandem, dass sechzig Jahre später die Mehrheit der Teenager von ihren Eltern oder der Bravo bis ins schlüpfrige Detail aufgeklärt werden und ihr erstes Mal lange vor Erreichen der Volljährigkeit erleben würden – die in jener Zeit noch bei einundzwanzig Jahren und
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