Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
nicht bei achtzehn lag. Schlimmer noch: Wer hätte gedacht, dass die Teenager der Zukunft den Gebrauch von Kondomen oft bereits in der Schule an einer Banane proben würden? Die Präser durften in den fabulösen Fünfzigern nämlich nur an Ehepaare abgegeben werden, und Werbung für empfängnisverhütende Mittel war generell verboten. Wer ungewollt schwanger wurde, durfte über Abtreibung nicht nachdenken oder diesen Gedanken zumindest nicht in die Tat umsetzen, denn es drohten dafür bis zu fünf Jahre Gefängnis.
Ähnlich geahndet wurde Regenbogensex: Getreu dem kirchlichen Dogma, dass ein Mann nicht bei einem anderen Mann liegen solle, war an öffentliche Schwulenparaden wie den Christopher-Street-Day nicht zu denken. Wer sich als homosexuell outete, setzte seine gesellschaftliche Existenz aufs Spiel und landete in der ddr bis zum Ende der Fünfzigerjahre, in der brd bis zum Ende der Sechzigerjahre nicht selten wegen Verstoßes gegen das Sittengesetz im Knast. Als Oswalt Kolle den Deutschen in den Sechzigern und Siebzigern beibrachte, dass man fürs Fummeln nicht in die Hölle kommt, fürchtete die Kirche den Sittenverfall. Die meisten Gläubigen waren noch fest davon überzeugt, dass Masturbieren Hirnschäden hervorruft. Verständlich, dass viele kirchliche Kommentatoren die naiven Softpornos im Kino sogar »schlimmer als den Zweiten Weltkrieg« fanden.
Fünfzig Jahre später lesen wir ungerührt in Fucking Berlin , wie sich eine Studentin durch die Betten der Hauptstadt vögelt, um ihr Studium zu finanzieren. Charlotte Roche bietet ihre Feuchtgebiete öffentlich Christian Wulff an, wenn dieser den Vertrag zur akw -Laufzeitverlängerung nicht unterschreibt, und die inzwischen in der Versenkung verschwundene Lady Bitch Ray schenkt Oliver Pocher im Ersten Deutschen Fernsehen vor laufender Kamera eine Dose von ihrem »Fotzensekret«. Überall laden Puffs zum »Gangbang« oder »Blowjobday« ein, manchmal sogar, um damit einen neuen Weltrekord aufzustellen: »Lea Blow will in 12 Stunden mindestens 250 Männer oral befriedigen. Lass dir einen blasen! Kostenlos!« Die Sünderin ist mittlerweile übrigens ab zwölf Jahren freigegeben.
»Die deutsche Gottvergessenheit zeigt sich heute in der geschwundenen Menschlichkeit in unserem Lande. Nur ein gläubiger Mensch wird auf Dauer ein friedfertiger Zeitgenosse bleiben. Wem Gott nicht mehr heilig ist, was soll dem noch heilig sein?«
Kardinal Meisner
Die Welt hat sich weitergedreht, der Planet der Pfaffen hat sich verändert. Die vergangenen fünfzig Jahre haben eine kontinuierliche Abwendung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten mit sich gebracht: Fleiß, Disziplin, Enthaltsamkeit machten Platz für Selbstverwirklichung, Glück und Genuss. »Der damals einsetzende Wandel auf dem religiösen Feld hängt mit diesen Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen unmittelbar zusammen«, sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack. »Die Zahl der Kirchenaustritte stieg sprunghaft an, die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst ging dramatisch zurück, der Glaube an Gott schwächte sich ab.« Reinhard Hempelmann von der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen ( ezw ) erklärt, dass dies damit zusammenhänge, dass es einen Automatismus früherer Jahre nicht mehr gebe: »Es wird immer seltener, dass Kinder in der Familie christlich sozialisiert werden und den Glauben ihrer Eltern einfach übernehmen.« Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Uhr noch einmal zurückdreht.
Umso lauter werden Bedenken von Vertretern beider christlicher Kirchen, dass sich unsere Gesellschaft ohne sie als moralische Schiedsrichter ins Abseits spiele. »Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt«, lautet ein immer gerne verwendetes Zitat von Dostojewski. Sogar Gregor Gysi bekennt: »Auch als Nichtgläubiger fürchte ich eine gottlose Gesellschaft«, und das Allensbach-Institut fand heraus, dass drei Viertel aller deutschen Führungskräfte der Aussage zustimmen: »Wenn in einer Gesellschaft die religiösen Bindungen schwächer werden, gehen auch wichtige Werte und Maßstäbe verloren.« Geistliche und Journalisten gedenken in ihren Büchern der ordnenden Vorbildfunktion des Christentums: Papst Benedikt xvi . setzt sich in Licht der Welt mit Christentum in der heutigen Gesellschaft auseinander, Bischof Reinhard Marx wettert in Das Kapital: Ein Plädoyer für den Menschen gegen einen Kapitalismus ohne Menschlichkeit, und Publizist Andreas Püttmann trinkt in
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