Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
uns mittlerweile fast eher einem Kachel- als einem Kirchenmann zu. Nur noch zwei von zehn Deutschen glauben, dass ihnen die Kirche in dieser Hinsicht Orientierung geben kann. Vor allem die katholische Kirche scheint in Sachen Moral noch mitten in den fünfziger Jahren zu stecken. Mittlerweile haben wir es sogar schwarz auf weiß, dass im Vatikan die Uhren stehengeblieben sind. In der von Wikileaks 2010 veröffentlichten Diplomatenpost befanden sich auch amerikanische Depeschen aus Rom. Was Barack Obama dort von seinen Informanten berichtet wurde, liest sich wie ein Bericht aus einer Parallelgesellschaft. Die Führungsetage des Vatikans sei fast ausschließlich eine Seilschaft aus alten italienischen Herren, die »technophob und ignorant« seien. »Sie verstehen moderne Medien und Informationstechnik nicht, die meisten haben keine offizielle E-Mail-Adresse.« Der Kardinalstaatssekretär, eine Art Ministerpräsident, spreche kein Englisch, der Papst sei von Jasagern umgeben und unabhängige Experten selten. Zudem unterhielte sich die Papstloge »in einer codierten Sprache, die niemand außerhalb ihres Zirkels dechiffrieren kann«.
»Das, was wir jetzt erleben, ist eine Momentaufnahme von etwas, was sich in über fünfhundert Jahren nicht verändert hat«, sagt Kirchenkritiker Eugen Drewermann. »Nicht durch die Reformation, nicht durch die Aufklärung, nicht durch die Frauenemanzipation, nicht durch die Demokratie als politischer Kultur. Durch gar nichts! Es ist gegen jede Erfahrung resistent!« Als »Oberflächensymptom für eine Grundstruktur, die im Ganzen nicht stimmt«, sieht er den Umgang mit dem Thema Sex. Dabei standen im Herbst 2010 die Zeichen im Vatikan auf sexuelle Revolution. »Sensation: Papst erlaubt Kondome«, schrieb die Hamburger Morgenpost noch vor Erscheinen des Buches Licht der Welt über eine kurze Äußerung darin, »Kampf gegen aids – Papst lockert das strikte Kondomverbot«, meldete Spiegel Online , »Ein Segen – nicht nur für Afrika«, meinte die Zeit Online , und die Welt Kompakt sah die Entwicklung in Sachen Kondomen gar als »explosiv« und »revolutionär« an.
Bei näherem Hinsehen relativierte sich die Äußerung des Vatikanchefs rasch. Benedikt hatte die Benutzung der Gummitütchen lediglich in »begründeten Einzelfällen« zur Verhinderung einer hi -Virusweitergabe bei männlichen Prostituierten gestattet. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, war dennoch begeistert und sagte, die Äußerungen zeigten »die tiefe Einfühlsamkeit des Papstes«. Dieser hatte auf seiner Afrikareise im Vorjahr noch ebenso gefühlsecht klargestellt: »Man kann das aids -Problem nicht durch die Verteilung von Kondomen regeln. Ihre Benutzung verschlimmert vielmehr das Problem.« Im traditionell katholischen Spanien hatte man darauf mit einer Spende reagiert – eine Million Präser für Afrika.
Die einzige von der katholischen Kirche abgesegnete Verhütungsmaßnahme ist bis heute die Knaus-Ogino-Methode, Codename »Vatikanisches Roulette«. Sie soll dafür sorgen, dass das Liebesspiel nicht an den fruchtbaren Tagen der Frau stattfindet. Wer sich darauf verlässt, hat oft das Nachsehen – die Quote an ungewollten Schwangerschaften ist bei dieser Methode vergleichsweise hoch. Deshalb werden allein in Deutschland Jahr für Jahr über zweihundert Millionen Kondome verbraucht. Der Vatikan meint aber auch angesichts dieser Berge an Verhütungslatex, dass sich so etwas nicht gehört – warum, das versteht heute wirklich niemand mehr. Immerhin geht es um einen Gegenstand, dessen Geschichte weitaus älter ist als die des Christentums, der in jedem Sexualkundeunterricht vorkommt und von dem weltweit jährlich Milliarden Exemplare in Gebrauch sind. Deutschlandweit herrscht größtenteils Einvernehmen darüber, dass das Kondom eine prima Sache ist. Neun von zehn Menschen schützen sich am Anfang neuer Beziehungen per Tütchen, berichtete die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ( bz g a ) 2010.
Auch andere Verhütungsmethoden sind laut Kirche vom Liebesspiel ausgeschlossen. Um das Verbot der Anti-Baby-Pille zu untermauern, vereinnahmt man heute gerne auf links gedrehte und zweckmäßig eingesetzte wissenschaftliche Erkenntnisse: Die Vatikanzeitung Osservatore Romano meldete jüngst desaströse Auswirkungen der Pille auf die Umwelt und die männliche Fortpflanzungsfähigkeit. »Ein entscheidender Grund für die abnehmende Spermienzahl bei Männern ist die Umweltverschmutzung
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