Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
sein: Ganze fünfzehn Leute bilden den festen Kern vom Motoki-Kollektiv. Gegründet haben sie sich während des Studiums in Köln, weil sie sowieso ständig über Gott und die Welt diskutiert haben und ihren Glauben gemeinsam ausprobieren wollten. Inzwischen sind etwa sechzig Leute mehr oder weniger regelmäßig dabei und helfen bei Veranstaltungen im gemieteten Ladenlokal mit. Einmal in der Woche gibt es einen Stammtisch, am Sonntag werden Psalmen gelesen und es wird gebetet. Das Wort Motoki ist ein Kunstwort aus zwei japanischen Wörtern für Baum, moto und ki . Der Baum versinnbildlicht das, was die Gruppe möchte: im Glauben verwurzelt sein und selbst Äste bilden, um das, was man erfahren hat, für andere zur Verfügung zu stellen. Michael Schmidt, einer der Gründer von Motoki, sagt, die Gemeinschaft gebe keine Regeln vor, sondern orientiere sich am christlichen Glaubensbekenntnis. »Wir sind auf einer Reise und probieren aus«, stellt er klar.
Ähnlich freigeistig und experimentell sehen sich auch die Jesus Freaks, eine charismatisch-evangelikale Vereinigung, für die der kleinste gemeinsame Nenner der Messias ist. Sie sind überzeugt, dass es sich lohnt, mit Jesus zu leben – auch ohne Amtskirche. »Unsere Vision ist es, dass in unserem Land, in Europa und überall auf der ganzen Welt Menschen für Jesus aufstehen, weil ein kompromissloses Leben mit Jesus das coolste, heftigste, intensivste und spannendste überhaupt ist«, steht in ihrer Charta.
Ein ehrlicher, unschuldiger Flirt mit dem Himmel oder verrückter Quatsch? Wir wollen uns live vor Ort ansehen, wie man Glauben modern und ohne Kirche lebt – beim Freakstock, ihrem christlichen Musikfestival. Das Credo der Jesus Freaks: Der Herr hatte eine geile Botschaft mit coolem Soundtrack. E-Gitarren statt Engelsposaunen! Ist das die Route 666 oder der Highway to Heaven?
Es ist Sommer, irgendwo in der toten Zone zwischen Paderborn und Kassel. Der Festival Planner und das hellblaue Besucherbändchen aus Plastik erinnern uns vage ans letzte Open-Air-Konzert, genau wie die campenden Leute, die mit einem Bierchen in der Hand auf Liegestühlen in der Sonne chillen und das Freakmagazin Der kranke Bote lesen. Manche von ihnen tragen T-Shirts mit dem Freakstock-Zeichen, einem A und O für Alpha und Omega, dessen Form stark an das Anarchie-Zeichen erinnert – und damit daran, dass die Wurzeln der Gemeinschaft in der Punkszene liegen. So kann christliche Gemeinschaft also auch aussehen.
Der größte Grund, warum die unterschiedlichen Leute auf dem Festival zusammenkommen, ist in erster Linie Gott, in zweiter erst Musik. Über der Bühne, auf der der Gottesdienst, genannt Hauptseminar, stattfinden soll, steht in weißen Lettern: Thanx Jesus! It’s all about you! God is in control and he never makes a mistake! Rechts und links neben der Bühne befinden sich vor den Lautsprechern zwei große Aufsteller aus schwarzer Gaze, auf denen in weißen Lettern der Freakstock-Schriftzug und das Jesus-Freaks-International-Zeichen prangen. Die ersten Gottesdienstbesucher kommen bereits an, breiten ihre Decken aus und pflanzen sich auf den Rasen. Ein glatzköpfiger Mann mit einem weißen T-Shirt, das ihn als »Wurstapostel 10« ausweist, hat am Bierstand seinen Platz bezogen. Daneben steht einer mit Kelly-Family-Shirt und Vokuhila. Wurstapostel und Vokuhila hätten im richtigen Leben vermutlich nicht besonders viel miteinander zu reden, hier stehen sie einträchtig beisammen. Jetzt stößt noch ein »Beter« zu ihnen, zumindest weist sein T-Shirt ihn als einen solchen aus. Alle drei tragen knielange Armeehosen.
Bevor die Show richtig beginnt, betritt Hauptseminar-Sprecher Henni die Bühne und macht eine wichtige Ansage. »Das Klopapier ist ausgegangen. Ihr habt’s geschafft – zu viel geschissen!« Dann erzählt er, wie ein Kumpel sich auf Freakstock einen Spaß daraus gemacht hatte, den anderen vors Zelt zu kacken. »Einer war so erbost drüber, dass der ihm sein ganzes Auto mit Kot vollgeschmiert hat. Bitte lasst so was.«
Für Dagmar Begemann, die die Jesus Freaks in Nürnberg mit aufgebaut hat, ist genau das Laienpriestertum ein Plus: »Die Kirche kann nur von uns lernen, denn das Priestertum wird es aus demografischen Gründen nicht mehr so lange in dieser Form geben«, sagt sie. »Bei den Jesus Freaks mussten wir die Struktur von Anfang an anders aufbauen, weil wir nicht über große Mittel verfügen. Wir überlegen, wie muss man Theologie vielleicht neu denken
Weitere Kostenlose Bücher