Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
für eine neue Zeit.«
Beim Gottesdienst erklärt Henni sehr geduldig, dass Jesus keine medizinische Fußpflege meint, wenn er Simon Petrus die unteren Gliedmaßen waschen will, sondern dass dies eine symbolische Handlung sei, bei der es um Nächstenliebe, Erlösung und Glauben geht.
Henni lächelt. »Und das ist ’ne geile Sache.« Es sei unvermeidbar, im täglichen Leben Fehler zu machen. Die Frage sei, was aus den Fehlern erwachse. »Da kann große Scheiße bei rauskommen.« Es sei die Aufgabe aller, sich von diesem Dreck gegenseitig zu befreien. Jetzt wird klar, warum das Klopapier so schnell alle war.
Ein anderer Ort, an dem man – zumindest in Teilzeit – verbindliche und gleichzeitig freie religiöse Gemeinschaft erleben kann, ist die weltberühmte ökumenische Ordensgemeinschaft von Taizé in Burgund. Kirche, aber ohne Dogmen? »Taizé zieht deswegen viele junge Leute an, weil sie merken, dass wir keine Angst vor Fragen über Gott haben«, vermutet Frère Richard, ein Schweizer in der Taizé-Bruderschaft. »Wir sind nicht besser als andere – und das wirkt auf die Jugendlichen authentisch.« Taizé haftet das Image einer einfachen und besseren Welt an, das durch die simple Lebensweise und nicht zuletzt durch die Taten des Gründers, Frère Roger, entstanden ist, der zu Zeiten des Dritten Reichs Juden und Oppositionelle versteckte. Jeder ist willkommen, die Brüder predigen nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe.
Das hat offenbar auch Lena »Oh mein Gott – ich dreh durch!« Meyer-Landrut gefallen. Sie hat nicht nur auf ihrem Oberarm ein Tattoo der Ritterlilie, die als Zeichen christlicher Pfadfinderinnen gilt, sondern trug beim Grand-Prix-Sieg auch den Taizé-Schmuck am Hals – eine Melange aus Taube und Kreuz. Bei den Klosterbrüdern hatte sie vor dem esc -Trubel eine Woche im Rahmen einer Jugendreise verbracht und danach in einer Geo-Reportage geschwärmt: »Es ist kein Gefühl, das es schon gibt. Es ist das Taizé-Gefühl – total viel Glück!« Holy Lena scheint in Taizé hart gebetet zu haben. Um herauszufinden, was das Faszinierende an dieser Erfahrung ist, fahren wir zum Taizé-Jugendtreffen nach Rotterdam, wo sich dreißigtausend Junge und Junggebliebene aus ganz Europa treffen, um gemeinsam zu singen und zu beten.
Die karge Halle in einem Veranstaltungszentrum in Rotterdam-Süd, in der wir uns zum Gebet treffen, hat einen äußerst hart und kalt aussehenden Betonfußboden, bei dessen Anblick noch kein Glück aufkeimt. Zwei Nonnen in unserer Nähe haben sich vorsorglich eine Isomatte mitgebracht. Der Saal füllt sich mit jungen Menschen. Die meisten Jugendlichen hier kommen aus den Niederlanden, dicht gefolgt von Polen, aus Deutschland sind es immerhin noch eintausendzweihundert junge Menschen.
Der Bereich in der Mitte vorn ist für die weiß gewandeten Brüder aus Taizé reserviert und wird von oben angestrahlt. Kurze Zeit später beginnt der vielstimmige Gesang »Venite exultemus Domino«, einer der typischen Taizé-Gesänge. Immer mehr Menschen fallen ein. Gesang, Psalmen, Lesungen – und schließlich Stille. Der Saal schweigt bis auf den letzten Platz, man könnte eine Stecknadel fallen hören, und das ist bei dieser Menschenmasse beachtlich.
In Taizé gleicht das Gebet so sehr der Meditation, dass sich oft auch Nichtgläubige davon angezogen fühlen. Das Geheimnis liegt in der simplen Wiederholung, im gemeinsamen Singen beruhigender Formeln. Doch auch die Brüder haben nicht mehr so viel Nachwuchs wie einst: »Viele stellen sich die Frage, ob sie zu uns gehören wollen, und das freut uns«, sagt Frère Richard, »aber für junge Menschen ist es natürlich schwierig, sich heute dauerhaft zu binden, aus Angst, etwas zu verpassen.«
Wer das Christentum lieber in kleinen Dosen zusammen mit Sex, Drugs and Rock’n’Roll genießt, ist deshalb vielleicht am besten bei den allerkleinsten Glaubenseinheiten aufgehoben: christlichen Rockgruppen. Neben allerlei christlichen Rockbands oder Kuschelpop der bekannteren Art vom larmoyanten Xavier Naidoo, gibt es in der Liste der Lobpreissinger auch White-Metal-Bands. Eigentlich ein Widerspruch, denn ein Merkmal der Musikrichtung Metal ist eine eher kritische Haltung zum Christentum, und Bands aus dem Black Metal sind sogar eher für den Satan zu haben. Christlicher Metal – auch White Metal oder Christ Metal genannt –, das ist ein wenig so, als würde Dita von Teese ihre Show demnächst im hochgeschlossenen Dreiteiler hinlegen:
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