Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
Kirche, glaube aber an Gott und Jesus«, stellt der Heiler fest und gibt dann ein Bonmot Albert Schweitzers zum Besten: »Man muss nicht in die Kirche gehen, um gläubig zu sein. Man ist ja auch kein Auto, nur weil man in der Garage steht.« Damit spricht er vielen seiner Kunden aus der Seele.
Der füllige Achtundzwanzigjährige erzählt, er habe schon als Teenager seine beste Freundin durch Handauflegen von einem verstauchten Knöchel geheilt. Danach hat er erst mal Einzelhandelskaufmann gelernt. Seitdem er sich selbstständig gemacht hat, heilt er zum Schnäppchenpreis von fünfundzwanzig Euro jeden, der will, im Fließbandverfahren von Beckenschiefstand, Haarausfall, Bandscheibenvorfall, Warzen und Zysten und will sich irgendwann auch an Tinnitus und Fehlsichtigkeit wagen.
Heiler Schulte wird – wie viele seiner Kollegen – vermutlich auf lange Sicht kaum arbeitslos werden. Im Auftrag von Chrismon fragte das Meinungsforschungsinstitut Emnid, an welche Phänomene, die wissenschaftlich nicht bewiesen sind, die Bürger glauben. Den ersten Platz belegte die Paramedizin, also alternative Heilmethoden. Achtundsiebzig Prozent der West- und sechsundsechzig Prozent der Ostdeutschen sind davon überzeugt, dass Homöopathie, Bachblütentherapie oder Ayurveda wirksame Heilmethoden sind. Siebenundfünfzig Prozent glauben an Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten. Dreiunddreißig Prozent glauben, dass man sich tatsächlich gegenseitig verfluchen kann.
Es gibt im Leben genügend Probleme und Wünsche, die befriedet werden wollen, und zu jedem scheint es auf der Messe ein passendes Angebot zu geben. An einem der Stände sehen wir ein Buch, das Abhilfe verspricht. Schon der Klappentext klingt vielversprechend: »365 Seiten für unendlich viele Wünsche! Wollten Sie nicht auch schon mal Meister und Schöpfer in Ihrem eigenen Leben sein? Das Buch mit Anleitung zur Wunscherfüllung, energetisch aufgeladen, mit positiver Kraft, für die Leichtigkeit des Seins, für Spiel, Spaß und Freude – und voller Geheimnisse und Magie. Dieses Wünschebuch ist außergewöhnlich – it’s magic! «
Das klingt doch gut, findet Stefan, der sich gerne noch den Wunsch vom Aston Martin und einem Winterquartier auf den Kanaren erfüllen möchte, und greift nach dem dicken Schinken. Die dreihundertfünfundsechzig Seiten sind samt und sonders leer. Das Leuchten auf seinem Gesicht verschwindet. Kein einziger Buchstabe, nur weiße Seiten. Glücklicherweise steht die Autorin am Stand.
»Haben Sie das geschrieben?«, erkundigt sich Stefan.
»Ja, das habe ich.«
»Alles?«, fragt er perplex. »Ich meine: Wie funktioniert denn das?«
»Also, Sie schreiben Ihre Wünsche in das Buch, und dann gehen sie in Erfüllung.«
»Ist ja toll. Und warum?«
»Ich habe das Buch energetisch aufgeladen.«
Stefan ist sprachlos.
»Ja, sehen Sie, ich bin ein Medium.« Die gut aussehende junge Dame umfasst seinen Arm. »Merken Sie, wie die Ströme fließen?«, fragt sie und tritt näher an Stefan heran. Bei ihm fließt nix, zumindest nicht im Arm.
»Ist nicht schlimm. Das kommt bei manchen später an«, beruhigt ihn die Autorin.
Wir gehen lieber weiter.
Im Vortragsraum findet als Nächstes ein Vortrag mit dem vielversprechenden Titel »Jeder kann sich selbst heilen und verschönern« statt. Es geht um die VinaMassage, die der vietnamesische Professor Bùi Quôc Châu erfunden hat. Leider ist der Meister selbst verhindert, es doziert die Leiterin des Fachinstituts für ganzheitliche VinaMassage, Nguyên Thi Thiêt. Kurz gefasst hat Professor Bùi herausgefunden, wie wir Probleme und Unwohlsein auf einfache Art lösen können. Dafür braucht man nur die Spezialgeräte des Meisters, deren Form und Größe entfernt an Hornhautraspeln erinnern. Es sind kleine Rädchen und Hämmerchen, mit denen man sich über die Nasenwurzel rollen kann oder leicht gegen die Stirn klopft.
Als kleine Aufwärmübung schlägt Nguyên Thi Thiêt der Gruppe vor, dass wir uns alle den Mund massieren. Jeder bei sich natürlich. Ist unser Mund nicht entspannt, so die verkürzte Weisheit, redet er viel Müll und schmutziges Zeug. Nachdem dreißig Mann fünf Minuten lang Lippensynchronreiben betrieben haben, fragt Nguyên Thi Thiêt: »Und, spülen Sie Enelgie wie fließt? Wenn Enelgie fließt, is ganz walm um Ihlen Mund.« Klar ist es warm, wir haben uns ja gerade minutenlang die Futterluke gerieben. Wie auch immer. Nguyên Thi Thiêt bittet einen Mann mit Kopfschmerzen nach vorne und
Weitere Kostenlose Bücher