Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
reibt dann emsig mit einem Holzröllchen über seine Stirn. »Und, fühlen schon bessel?«
»Ja, dat is nit schleesch«, kölscht der Mann. »Ming Frau hätt so ene Backroller für de Küch zuhuss. Kann isch dat damit och maache?«
»Nein, müssen Geläte von Plofessol Bùi kaufen«, erklärt Nguyên Thi Thiêt.
Offenbar hat sich jedoch auch ein Ketzer unter die begeisterte Menge gemischt.
»Das ist doch Humbug, was Sie da machen«, ruft es aus der letzten Reihe. »Da glaube ich nie und nimmer dran, das funktioniert nicht bei mir!«
»Ist doch klal«, sagt Nguyên Thi Thiêt. »Wenn nicht glauben, nicht funktionielen. Wenn glauben, dann auch funktionielen.«
Das leuchtet ein. So verschieden sind Esoterik und Christentum dann doch wieder nicht. Bevor wir diese Erkenntnis vertiefen können, müssen wir los – schließlich wollen wir nicht zu spät zum »Kaffeesatz-Lesen – mit der Mokkatasse in die Zukunft blicken!« von Aylin kommen.
Als wir am späten Nachmittag aus dem letzten Kurs taumeln, sind wir allen höheren Wesen dankbar, dass diese Messe nicht jeden Sonntag stattfindet – denn auch die meisten der esoterischen Weisheiten funktionieren nach dem Prinzip der Gehirnwäsche: Hört man sie oft genug, glaubt man am Ende tatsächlich daran.
»Dass Glaube etwas ganz anderes sei als Aberglaube, ist unter allem Aberglaube der größte.«
Karlheinz Deschner
Sind wir bei diesen selbsterwählten Heilern, Medien oder Gurus tatsächlich freier, als wir das im christlichen Glauben waren, nur weil wir uns die Lehre selbst ausgesucht haben? »Es gibt keinen wirksameren Feind des Humanismus und kein schnelleres Fluchtgefährt aus der sozialen Realität als die Esoterik, den Irrationalismus, den Obskurantismus«, sagte Grünen-Mitbegründerin und Sozialwissenschaftlerin Jutta Dithfurth der Zeit . Für sie ist Esoterik »eines der wirkungsvollsten Gifte, um dem Menschen die Flausen auszutreiben, er habe nur ein Leben, und dessen Sinn könne darin liegen, sich mit anderen für ein wirklich freies, selbstbestimmtes Leben für alle zu verbünden.«
Wenn man sich umsieht, fragt man sich schnell, ob wirklich jeder ein frei bestimmtes Leben führen will – immerhin geben viele Leute ziemlich viel Geld aus, um genau das nicht zu tun. Psychotherapeut Dr. Colin Goldner, der Opfer von Scharlatanen und esoterischem Unfug betreut, warnt vor dem Schritt in die Abhängigkeit. »Das kann großen seelischen Schaden anrichten«, sagt er in einer ARD-Talkshow. »Menschen, die an solche Phänomene glauben, bewegen sich ohnehin schon im Grenzbereich psychischer Gesundheit und Integrität. Hinzu kommt, dass Menschen, die sich an solche Anbieter wenden, das in aller Regel tun vor dem Hintergrund einer aktuellen Krise.« Er erzählt von einer seiner Patientinnen, einer Opernsängerin, die Angst vor Stimmversagen auf der Bühne hatte, worauf sie einen Reinkarnationstherapeuten aufsuchte. Dieser erklärte ihr, sie sei in ihrem früheren Leben Scharfrichter gewesen und hätte dort so große Schuld auf sich geladen, dass sich das jetzt an ihrem Hals zeigen würde. Die Dame wollte sich ihres Karmas entlasten, indem sie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde in die Psychiatrie eingeliefert.
Die Gefahr eines Hirnschadens ist offenbar nicht von der Hand zu weisen. Daneben besteht das Risiko, an einer Überdosis fixer esoterischer Ideen pleitezugehen. Wenn nämlich die Kirche mit ihrem standardisierten Steuereinzugsverfahren wie die gez ist, dann ist Esoterik wie pay-tv . Wir können den Inhalt selbst bestimmen und nach Belieben zusammenstellen – es sind genügend Medien, Wahrsager und Handaufleger auf Sendung, man muss sich ihren Service nur leisten können. Das kommt dem Trend zum individuellen Glaubenssetzkasten zwar sehr entgegen, allerdings zeigt der Mystikboom auch, dass es dabei vor allem um Abzocke geht.
Welche Unmengen an Geld man für die allein seligmachende Wahrheit verschleudern kann, zeigen Hollywood-Größen wie Madonna, Demi Moore und Ashton Kutcher, Brittany Murphy, Naomi Campbell, Hugh Jackman und Oscar-Preisträgerin Charlize Theron, von denen man weiß, dass sie regelmäßig ein Kabbala-Center aufsuchen, um dort durch einen neuen US-Aufguss der alten jüdischen Geheimlehre zum Glück zu finden. Zuletzt machte Madonna damit Schlagzeilen, dass sie gesegnetes Kabbalawasser nach Südostasien schickte, um den Tsunami-Opfern zu helfen. Kostenpunkt: fünf Dollar pro Flasche. Schon für ihre Bekehrung hatte sie
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