Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
diesen Worten drapiert der Kellner das Handwerkszeug für den nächsten Gang auf dem Tisch.
»Was meint er damit?«, raunt mir Anne verwundert zu.
Ich zucke mit den Schultern. Vermutlich sprach er von den »zwei Süppchen«, die just in diesem Moment aus der Küche einfliegen – eine Gewürzkürbiscrème und eine Bouillon von Gänseleber mit Périgordtrüffel und Nussbutterschaum. Recht ordentlich, denke ich, so kann’s weitergehen. Und das tut es auch, jeder Gang ist für sich eine Offenbarung. Nachdem wir gegessen haben, schlendert noch der Küchenprophet selbst vorbei, um uns zu fragen, ob es gemundet hat.
Auf der Heimfahrt können wir nicht abstreiten, ein neues Level der Esskultur erklommen zu haben, jenseits von Schnellimbiss, Eckitaliener und Tütensuppe. Ich habe das Gefühl, eine höhere Bewusstseinsebene erlangt zu haben, was aber auch an der Magenüberdehnung liegen könnte. Für sechs Gänge war das Paradies zum Greifen nah. Wer meint, dass Essen Sünde ist, soll sich ruhig weiter mit Backoblaten begnügen. Immerhin muss er dann am nächsten Tag nicht im Fitnessstudio Buße tun.
D ie irdischen Sinnangebote poppen schneller auf, als man sie wegklicken kann. Ein Versprechen ist all diesen Angeboten gemein: Hier können wir das Richtige tun und dabei mit unseren Sinnen erfahren, wie sich Glück anfühlt – ohne auf den Einlass in ein mutmaßliches göttliches Paradies warten zu müssen. Aber was ist wirklich drin im neuen Sinn? Können materielle Werte, Spaßgesellschaft und kurzlebige Trends einfach jahrtausendealte Religionen ersetzen?
»Ich bin ein Workaholic«, verkünden stolz die Mimen Lindsay Lohan, August Zirner, Ashley Greene und viele andere. Dabei muss man kein Star sein, um in der Arbeit den alleinigen Sinn seiner Existenz zu sehen. Evi ist ein gutes Beispiel. Jeder hat einen Kollegen wie sie im Büro: Morgens ist sie selbstverständlich als Erste im Büro und für ihren Chef immer erreichbar, selbst abends und am Wochenende. Für Evi gibt es nichts Wichtigeres als die wöchentliche Abteilungskonferenz, ihre Projekte sind durch abendliche Überstunden immer vor Termin fertig, und sie leistet wahre Frondienste, um alle Materialien für ihre Powerpoint-Präsi zusammenzupuzzeln. Abends ist sie die Letzte am Schreibtisch – als ritualhafte Handlung zum Abschluss des Arbeitstages macht sie den Rechner aus, sieht noch einmal in allen Büros nach, ob die Fenster geschlossen sind, und hinterlässt dabei den Kollegen gelbe Post-its mit wichtigen Aufgaben für den nächsten Morgen. Familie und Freunde kommen stets an zweiter Stelle, und so hätte Evi stolzer nicht sein können, als der Firmenchef ihr persönlich zum Geburtstag ein Fläschchen Trüffelöl überreichte.
»Früher wurden die seelischen Bedürfnisse von Menschen in der Kirche wahrgenommen. Heutzutage sind es Medizin oder auch Sport, wo spirituelle Antworten, Vergebung und Erlösung gesucht werden. Wenn ich sehe, wie Leute ins Fitnessstudio rennen, dann hat das was von religiösem Eifer. Das ist für mich die gleiche Haltung, mit der Sünder sich früher auf den Rücken gehauen haben. Nur sind die Geräte ergonomischer geworden.«
Eckart von Hirschhausen
Die Evis in unseren Büros zelebrieren ihr Arbeitsleben wie eine Religion. Selbst Menschen, die als normale Angestellte nicht üppig verdienen, sind bereit, alles andere aufzugeben, nur um in ihrem Job zu brillieren. Die Arbeit wird zum Selbstzweck, ist aber auf ein höheres Ziel ausgerichtet – selbst die Kirche lehrt immerhin, dass man große Freuden erreicht, wenn man sich ordentlich quält. Der Ort, an dem wir heute Buße tun und dessen Atmosphäre heilig ist, ist das Büro. So wie früher kritisch beäugt wurde, wer sonntags in der Kirche war, schielen heute die Kollegen darauf, wer abends am längsten bleibt. Überstunden sind die neue Selbstgeißelung des 21. Jahrhunderts, und das Resultat, die moderne Glaubenskrise, bleibt nicht aus. In der Zeit schreibt Ulrich Greiner: »Der Gott des Geldes und des Erfolgs verlangt von seinen Dienern zuweilen mehr als der Gott der Christen.« Der Stern titelte jüngst: »Panik, Isolation, Erschöpfung. Wenn der Job das Leben frisst«, und der Spiegel findet gar in der Bibel erste Geschichten von Burn-outs: Früher hieß die Diagnose daher »Elias-Müdigkeit«. Eine Untersuchung des Robert-Koch-Instituts zeigt, dass bereits vier Millionen Bundesbürger wegen überhöhter Arbeitsbelastung an Depressionen leiden, und nach einer Studie
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