Heilige Scheiße - Bonner, S: Heilige Scheiße: Wären wir ohne Religion wirklich besser dran?
erst nach dem Ableben. Den einen genügt der Blick in die Augen der eigenen Kinder, um dem Dasein einen Grund zu geben. Andere feiern den Aufbau des neuen Flachbildfernsehers wie die Errichtung eines Heiligenschreins im heimischen Wohnzimmer, und die simple Schlüsselübergabe zum Traumwagen wird in Wolfsburg, Zuffenhausen oder München als dramatischer Akt zelebriert wie die heilige Messe samt Abendmahl. Andere entdecken die lange vergessene Atomdebatte als Grund für einen nachhaltigen Lebenswandel wieder oder regen sich über einen überteuerten Bahnhof auf, dessen Verhinderung sie fortan all ihre Zeit widmen. Sogar das Wetter trägt pseudoreligiöse Züge: »Wir glauben an den Klimawandel. Glauben, weil wir es nicht wissen, aber Politik und Wissenschaft haben uns so lange gesagt, dass es wärmer wird, nun muss es so sein«, verkündete die 3sat Kulturzeit jüngst. »Es ist ein Dogma – das heißt, was uns an Wissen fehlt, wird durch gläubige Gewissheit wettgemacht.«
Alle paar Wochen rufen die Medien und Trendsetter eine neue Ersatzreligion aus, die uns Lebenszufriedenheit versprechen soll. Die Zeit kürt Steve Jobs zum Papst einer »Apple Weltkirche«, was uns an Karl Marx erinnert, der sagte, dass der Kapitalismus Gebrauchsgegenstände religiös aufladen muss, will er erfolgreich sein. Daran knüpft Meinhard Miegel an, wenn er sich in seinem Buch Exit auf die Weltreligion des Konsums bezieht. Die FAZ hält auch Fußball für »eine Frage des Glaubens«, wenn der Sport zum spirituellen Großereignis wird. Der Psychologe Alfred Gebert erklärte im Focus Mode zu mehr als zu einem Trend: »In Zeiten, in denen übergeordnete Werte fehlen, wird Außenorientierung zur Ersatzreligion. Gut geht es mir nur, wenn meine neue Frisur bemerkt wird.« Wellness, Bio, Online-Rollenspiele, – Magazine, Fernsehen und Zeitungen meinen hier, Ersatzglauben erspäht zu haben. Im Kern geht es dabei immer um mehr oder weniger dogmatische Glaubenssätze, starke Leitbilder und einen tieferen Lebenssinn. Selbst die Ernährung wird in den Medien zur Ersatzreligion. So rief das Jetzt -Magazin vor einiger Zeit einen »Glaubenskrieg ums Essen« aus.
STEFAN ERZÄHLT
Gott kann in Frankreich nicht viel besser gegessen haben. Die marinierte Entenleber mit gelber Bete, Süßholz und Entenrillettes – gequirlter Wasservogel, wie ich später ergoogle – liegt wie ein unwiderstehliches Versprechen hübsch drapiert vor mir auf dem Teller. Wer soll da nein sagen? Ich bestimmt nicht, denn ich liebe Essen. Wirklich! Es gibt nur wenig andere Dinge, die mich so in Verzückung bringen wie ein leckeres Menü und ein Schoppen guter Wein. Dabei bin ich nicht pingelig – auch ein gutes holländisches Krabbenbrötchen kann mir Jauchzer entlocken. Meine schnell ausufernde Figur muss ich deshalb leider mit einem rigiden Sportprogramm in Schach halten.
Anne und ich sind im Sternerestaurant von Nils Henkel im Schloss Lerbach zu Gast. Reine Recherche, versteht sich. Denn wir haben gehört, dass für manchen Zeitgenossen Essen religiöse Züge trägt. Das Versprechen der Michelinküche: ein himmlischer Genuss, der uns in andere Sphären beamen kann. Wir werden zu einem kleinen Aperitif an die Bar gebeten. Der Boden ist aus dunkler Eiche, die Lampen sind mit Seide bespannt, die Ledersessel gediegen. Es gibt Nüsschen und Wasabi-Chips, und nachdem wir fast schon beschlossen haben, dass wir den Abend gut auf diese Weise bestreiten könnten, tritt ein junger Mann zu uns.
»Ich bin Ihr persönlicher Kellner«, sagt er mit gedämpfter Stimme, »und begleite Sie durch den Abend.«
Als wir im Speiseraum am intimen Zweiertisch Platz genommen haben, weist uns der Sommelier in die telefonbuchdicke Weinkarte ein. Die Atmosphäre ist entspannt wie im Luxus-Spa, alles wirkt leicht und luftig, schließlich soll man die Seele baumeln lassen können.
Früher hat hier Dieter Müller, ein Heiliger der deutschen Küche, kulinarische Wunder vollbracht. Sein Jünger Nils Henkel tritt mit moderner Botschaft an: »Pure Nature«. Das Grußwort in der Speisekarte verspricht einen Gaumenschmaus ganz im Sinne der Bionade-Bohème: »Ich lege größten Wert auf kurze Wege, den Aspekt der Nachhaltigkeit und fühle mich der Umwelt verpflichtet.« Selbst Vegetarier können hier ein sechsgängiges Menü bestellen. Gut für Anne, denn von meiner Entenleber würde sie mit ihrer Vorliebe für Hasenfutter doch nur Albträume bekommen.
»Ich möchte schon mal ein Zeichen setzen.« Mit
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