Heiliger Zorn
sein.«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte meine Benommenheit zu vertreiben. »Was…? Warum?«
»Weil«, sagte er völlig ernst, »das verdammte Zeug zu funktionieren scheint.«
48
Als sie Sylvie Oshima aus der Erntestation brachten, lag ihr Körper auf einem klobigen grauen Gravschlitten mit Tseng-Logo und Plastiküberwölbung zum Schutz vor dem Regen. Liebeck hielt eine Fernbedienung in der Hand, mit der sie den Schlitten steuerte, und eine andere Frau, die, wie ich vermutete, Tomaselli war, bildete die Nachhut mit einem auf der Schulter getragenen Überwachungssystem, ebenfalls mit Tseng-Logo. Ich schaffte es, mich auf die Beine zu erheben, als sie herauskamen, und seltsamerweise schien es Murakami nicht im Geringsten zu stören. Wir standen schweigend nebeneinander, wie Trauergäste einer prämillenialen Begräbnisprozession, und beobachteten das Eintreffen der Gravliege und ihrer Last. Als ich auf Oshimas Gesicht blickte, erinnerte ich mich an den kunstvoll angelegten Steingarten auf dem Rila-Felsen und die Liege, auf der sie dort geruht hatte, und mir wurde bewusst, dass diese Frau als Schlüsselfigur einer neuen revolutionären Ära über ungewöhnlich lange Zeiträume bewusstlos auf Transporteinrichtungen für Invalide festgeschnallt war. Diesmal waren ihre Augen unter der transparenten Abdeckung geöffnet, aber sie schien nicht allzu viel von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Wenn auf dem kleinen Bildschirm neben ihrem Kopf nicht ihre Biowerte zu sehen gewesen wären, hätte man meinen können, es mit einer Leiche zu tun zu haben.
So ist es aber, Tak. Du blickst hier auf die Leiche der quellistischen Revolution. Dies war alles, was der Bewegung noch geblieben war, und nachdem Koi und die anderen nicht mehr sind, wird sie niemand mehr zu neuem Leben erwecken.
Im Grunde war es kein Schock gewesen, dass Koi, Brasil und Tres von Murakami hingerichtet worden waren. Damit hatte ich in gewisser Weise seit dem Augenblick meines Aufwachens gerechnet. Ich hatte es in Virginia Vidauras Gesicht gesehen, als sie am Anlegepfeiler zusammengesunken dagesessen hatte. Als sie schließlich die Worte ausgespuckt hatte, war es nur eine Bestätigung gewesen. Und als Murakami gelassen genickt und mir die Hand voll frisch herausgeschnittener kortikaler Stacks gezeigt hatte, hatte ich nur noch das Gefühl gehabt, in einen Spiegel zu starren, dass mich demnächst das gleiche endgültige Ende erwartete.
»Komm schon, Tak.« Er hatte die Stacks wieder in der Tasche seines Tarnanzugs verschwinden lassen und sich nachlässig die Hände daran abgewischt, während er eine Grimasse schnitt. »Du musst einsehen, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich habe dir bereits gesagt, dass wir uns keine Neuauflage der Siedlerkriege leisten können. Allein schon, weil diese Leute in jedem Fall verloren und anschließend den Stiefel des Protektorats zu spüren bekommen hätten. Und wer will das schon?«
Virginia Vidaura spuckte ihn an. Eine beachtliche Leistung, wenn man berücksichtigte, dass sie immer noch drei oder vier Meter entfernt am Pfeiler hing. Murakami seufzte.
»Scheiße, denk doch nur mal für einen Augenblick nach, Virginia! Überleg dir, was ein neoquellistischer Aufstand für diesen Planeten bedeuten würde. Du glaubst, auf Adoracion war es schlimm? Du glaubst, Sharya war ein Debakel? Das ist nichts im Vergleich zu dem, was hier geschehen wäre, wenn deine Strandpartykumpels die revolutionäre Fahne gehisst hätten. Glaub mir, mit der Hapeta-Regierung ist nicht zu spaßen. Das sind Hardliner mit einem Mandat, das wie ein Freibrief ist. Sie werden alles niederschlagen, was auf irgendeiner der besiedelten Welten auch nur den Anschein einer Revolte erweckt, und wenn sie dazu einen Planeten flächendeckend bombardieren müssen, dann werden sie genau das tun.«
»Klar«, sagte sie. »Und das sollen wir als Regierungsform akzeptieren, wie? Die Oberherrschaft einer korrupten Oligarchie mit der Rückendeckung durch eine überwältigende militärische Macht.«
Murakami hob die Schultern. »Ich wüsste nicht, warum wir das nicht tun sollten. Historisch gesehen funktioniert es. Die Menschen tun am liebsten das, was man ihnen sagt. Und so schlimm ist diese Oligarchie doch gar nicht, oder? Ich meine, schaut euch die Lebensbedingungen der Menschen an. Hier geht es nicht mehr um die Armut und die Unterdrückung der Siedlerzeit. Das ist seit dreihundert Jahren vorbei.«
»Und warum ist es vorbei?« Vidauras Stimme verlor an Kraft.
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