Heiliger Zorn
Ich machte mir Sorgen, dass sie vielleicht eine Gehirnerschütterung hatte. Surfer-Sleeves waren zäh, aber sie waren nicht darauf ausgelegt, Gesichtsverletzungen wegzustecken, wie sie sie erlitten hatte. »Du verdammter Volltrottel. Nur weil die Quellisten ihnen die Hölle heiß gemacht haben.«
Murakami reagierte mit einer ungeduldigen Geste. »Also gut, dann haben Sie ihren Zweck erfüllt. Jetzt brauchen wir sie nicht mehr.«
»Das ist Blödsinn, Murakami, und das weißt du ganz genau.« Aber Vidaura starrte mich mit leerem Blick an, während sie sprach. »Macht ist keine Struktur, sondern ein fließendes System. Entweder sammelt sie sich an der Spitze, oder sie verteilt sich durch das ganze System. Der Quellismus hat diese Verteilung in Bewegung gesetzt, und seitdem haben diese Scheißer in Millsport versucht, den Fluss wieder umzukehren. Jetzt herrscht wieder die Akkumulation vor. Die Dinge werden sich immer mehr verschlechtern, man wird uns Stück für Stück immer mehr wegnehmen, und in hundert Jahren wirst du aufwachen und feststellen, dass es wieder genauso wie in der Siedlerzeit ist.«
Murakami nickte während der ganzen Rede, als würde er ernsthaft darüber nachdenken.
»Die Sache ist nur die, Virginia«, sagte er, als sie fertig war, »dass sie mich nicht dafür bezahlen und erst recht nicht dafür ausgebildet haben, mir Sorgen zu machen, was in hundert Jahren sein könnte. Sie haben mich dazu ausgebildet – du hast mich dazu ausgebildet, um genau zu sein –, mit gegenwärtigen Problemen zurechtzukommen. Und genau das tun wir hier.«
Gegenwärtige Probleme: Sylvie Oshima, DeCom.
»Verdammter Mecsek«, sagte Murakami verärgert und deutete mit einem Nicken zur Gestalt auf dem Gravbett hinüber. »Wenn ich was zu sagen hätte, würden lokale Regierungen überhaupt keinen Zugang zu diesem Zeug erhalten, ganz zu schweigen von der Erlaubnis, eine Lizenz an einen Haufen drogensüchtiger Glücksjäger mit Funktionsstörung zu vergeben. Wir hätten ein Spezialistenteam der Envoys nach New Hok schicken können, um dort aufzuräumen. Dann wäre all das nicht passiert.«
»Ja, aber das hätte zu viel gekostet, falls du dich erinnerst.«
Er nickte bedrückt. »Ja. Derselbe beschissene Grund, warum das Protektorat dieses Zeug an jeden vermietet hat. Die Investitionen müssen sich rentieren. Es geht nur noch ums Scheißgeld. Niemand will mehr Geschichte, sondern nur noch ein Vermögen machen.«
»Ich dachte, du willst genau dasselbe«, sagte Virginia Vidaura schwach. »Jeder kratzt Geld zusammen. Die Exekutive der Oligarchie. Supereinfaches Kontrollsystem. Und jetzt willst du dich plötzlich darüber beschweren?«
Er warf ihr einen erschöpften Seitenblick zu und schüttelte den Kopf. Liebeck und Tomaselli hatten sich entfernt, um sich einen Seehanf-Joint zu teilen, bis Vlad/Mallory mit dem Pfähler auftauchte. Wartezeit. Der Gravschlitten schwebte unbewacht einen Meter von mir entfernt. Regen fiel sanft auf die transparente Plastikabdeckung und rann an den Seiten herab. Der Wind hatte sich zu einer zögernden Brise beruhigt, und das Blasterfeuer von der anderen Seite der Farm war schon vor einiger Zeit verstummt. Ich stand in diesem kristallinen Moment der Stille und blickte auf Sylvie Oshimas erstarrte Augen. Flüsternde Fetzen der Intuition kratzten an den Barrieren meines bewussten Verständnisses und suchten Einlass.
»Was hat es damit auf sich, Geschichte zu machen, Todd?«, fragte ich tonlos. »Was ist mit den DeComs los?«
Er drehte sich zu mir um, und in seinem Gesicht stand ein Ausdruck, den ich noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Er lächelte unsicher. Dadurch sah er plötzlich sehr jung aus.
»Was los ist? Wie ich schon sagte, es funktioniert. Auf Latimer hat man den Durchbruch geschafft, Tak. Kontakt mit den marsianischen KIs. Kompatibilität der Datensysteme, zum ersten Mal nach fast sechshundert Jahren des Herumprobierens. Ihre Maschinen reden mit unseren, und es ist dieses System, das den Abgrund überbrückt hat. Wir haben das Interface geöffnet.«
Kalte Krallen tasteten sich mein Rückgrat hinauf. Ich erinnerte mich an Latimer und Sanction IV und einige der Dinge, die ich dort gesehen und getan hatte. Irgendwo war ich immer davon überzeugt gewesen, dass dort etwas Bedeutsames passiert war. Ich hatte nur nie geglaubt, dass es schließlich auf mich zurückfallen würde.
»Aber man scheint die Sache ziemlich gut unter Verschluss zu halten, was?«, sagte ich behutsam.
»Würdest du
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