Heiliges Feuer
stundenlang ab.«
»Die römischen Kids lesen?«, half Maya nach, damit beschäftigt, die Schuhe zu sortieren. »Mann, wie klassisch.«
»Es ist schrecklich, eine furchtbare Angewohnheit! In der Virtualität gibt es wenigstens Interaktion! Sogar beim Fernsehen muss man Gehirnregionen nutzen, die visuelle Reize und echte Dialoge verarbeiten! Lesen ist wirklich schlecht für einen, es schadet den Augen, ruiniert die Haltung und macht dick.«
»Meinst du nicht, Lesen könnte bisweilen auch nützlich sein?«
»Klar, das sagen alle. Diese Typen nehmen Sprachtinkturen zu sich, dann können sie tausend Worte pro Minute lesen! Trotzdem tun sie nichts! Sie lesen bloß davon, etwas zu tun. Das ist krankhaft.«
Maya richtete sich widerwillig auf. Vom langen Stehen und den vielen Anproben taten ihr die angeschwollenen Beine weh. Posen einzunehmen und zu halten war körperlich anstrengender, als sie sich vorgestellt hatte. »Also, heute ist es schon zu spät, um die Sachen zurückzugeben. Kennst du einen sicheren Ort, wo wir den Plunder verwahren können? Wo wohnst du?«
»Ich glaube, meine Wohnung wäre nicht so geeignet.«
»Lebst du in einem Baum oder was?«
Brett runzelte verletzt die Stirn. »Nein! Ich finde bloß, dass meine Wohnung nicht geeignet wäre.«
»Also, in das Luxushotel, in dem ich abgestiegen bin, kann ich diesen Krempel nicht mitnehmen, ich würde nicht mal am Türsteherhund vorbeikommen.« Maya warf ihre Löckchen. Die neue, dunkle Perücke stand ihr gut. Sie war sehr viel besser als ihr eigenes Haar. »Wo können wir um zwei Uhr morgens mit einem Haufen Requisiten hingehen?«
»Also, ich kenne da den perfekten Unterschlupf«, sagte Brett, »aber wahrscheinlich sollte ich dich nicht dorthin mitnehmen.«
Bretts Freunde waren um drei Uhr morgens noch auf, denn sie waren süchtig. Sie waren zu sechst und lebten in einem feuchten Keller in Trastevere, der aussah, als habe er bereits Generationen von Drogensüchtigen beherbergt.
Drogensüchtigen der neunziger Jahre standen völlig neue Wege ins künstliche Paradies offen. Die Politas unterband jeglichen Schwarzhandel mit illegalen Drogen, doch mit einem entsprechend ausgerüsteten Tinkturenset und den richtigen biochemischen Rezepten konnte man genug von nahezu jeder beliebigen Droge herstellen, um sich und eine ganze Schar von Freunden ins Jenseits zu befördern. Die Politas fand sich damit ab, dass sich die Herstellung und der Besitz von Drogen der Kontrolle entzogen. Sie begnügte sich damit, den Menschen, die vorsätzlich ihre Gesundheit ruinierten, die medizinische Behandlung einzuschränken.
Wie jede vertrackte Situation war auch diese von der Politas bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet. Gefährliche Stoffe, die zum Herzstillstand führten oder die Leber schädigten, verringerten eindeutig die Lebenserwartung, daher zog ihr Gebrauch strenge medizinische Strafen nach sich. Drogen, welche schon in Mikrogrammmengen die kognitiven Prozesse beeinträchtigten, richteten nur geringe metabolische Schäden an und wurden daher weitgehend toleriert. Die Politas war ein medizinischindustrieller Komplex, eine mit Drogen durchtränkte Gesellschaft. Der primitive Mythos einer drogenfreien Lebensweise übte keinen Reiz auf die Politas aus. Der auf dem neurochemischen Schlachtfeld ausgetragene Kampf gegen die Senilität hatte dazu geführt, dass große und einflussreiche Segmente der wahlberechtigten Bevölkerung permanent in veränderten Bewusstseinszuständen lebten.
Maya - oder vielmehr Mia - hatte auch schon früher mit Junkies zu tun gehabt. Jedes Mal war sie von der Höflichkeit der Junkies beeindruckt gewesen. Junkies war eine übermenschliche Vornehmheit zu eigen, die mit einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber konventionellen Vorstellungen und Bestrebungen einherging. Sie war noch keinem Junkie begegnet, der nicht höflich versucht hätte, andere zu der düsteren Transzendenz des Drogenlebens zu bekehren. Junkies teilten alles miteinander: Moskitos, Pillen, Betten, Gabeln, Kämme, Zahnbürsten, das Essen und natürlich auch ihre Drogen. Junkies waren Teil eines losen, globalen Netzwerks, der interkontinentalen Freimaurerloge der Drogenabhängigen.
Da ihnen umfangreiche Vorräte von allen Drogen gestattet waren, die sie zusammenbrauen konnten, waren moderne Junkies nur selten gewalttätig. Sie vermieden es, ins Elend abzurutschen. Gleichwohl war ihr Tun mehr oder minder selbstmörderisch.
Viele Junkies verstanden es, mit erstaunlich
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