Heiliges Feuer
Maya nahm Platz. Helene musterte sie voller Interesse und Wohlwollen. Maya hatte das Gefühl, durchleuchtet zu werden.
»Sie sind ganz reizend, meine Liebe. In Natur wirken Sie überhaupt nicht so düster wie auf den Fotos dieses schrecklichen alten Mannes.«
»Der schreckliche alte Mann steht dort drüben an der Bar, Helene.«
»O je«, meinte Helene ungerührt. »Ich lerne es wohl nie. Also, das war nicht nett von mir. Ich will mich gleich bei Ihrem Freund Josef entschuldigen.«
»Du meine Güte, Paul«, sagte Maya langsam, während sie beobachtete, wie Helene davonschwebte. »So etwas habe ich noch nicht erlebt. Eine solche…«
Paul deutete die Geste des Halsabschneidens an und sah zu Boden. Maya verstummte und senkte den Blick. Einer von Helenes kleinen weißen Hunden sah mit der kalten wissenschaftlichen Intensität einer interplanetarischen Sonde zu ihr auf.
Bouboule tauchte auf. Nüchtern und besorgt. »Ciao, Maya.«
»Ciao, Bouboule.«
»Ein paar von den Mädels wollen mal frische Luft schnappen. Kommst du mit? Nur für einen Moment?«
»Sicher, Schätzchen.« Maya warf Paul einen bedeutungsvollen Blick zu, und Paul erwiderte ihn mit solch maskuliner Grabenkriegsgalanterie, dass sie am liebsten ein seidenes Banner an ihm befestigt hätte.
Sie folgte Bouboule durch eine nicht gekennzeichnete Tür an der Rückseite der Bar, dann ging es über vier Absätze eine steile Wendeltreppe mit schmiedeeisernem Geländer hinauf. Maya war noch nie so froh gewesen, einen Affen zu sehen.
Bouboule führte sie durch den mit allerlei Gerümpel vollgestopften Dachboden hindurch und dann eine schwarze Metallleiter hinauf. Sie drückte eine schwere Holzklappe auf, und sie gelangten auf das sanft geneigte Dach des Tete du Noye. Es war mittlerweile Frühling, die ständige Bewölkung des Prager Winters war endlich verscheucht worden. Der Himmel war voller junger Sterne.
Erst als Bouboule die Klappe mit dumpfem Poltern geschlossen hatte, sprach sie Maya an. »Ich glaube, jetzt können wir uns ungestört unterhalten.«
»Was macht die Polizistin hier?«
»Hin und wieder schaut sie vorbei«, antwortete Bouboule mürrisch. »Wir können nichts dagegen tun.«
Es war eine kalte, windstille Nacht. Der Krallenaffe beklagte sich schnatternd. »[Sei brav, Patapouff]«, schalt Bouboule ihn auf französisch aus. »[Heute Nacht musst du mich beschützen.]« Der Affe hatte sie anscheinend verstanden. Er rückte sein Hütchen zurecht und schaute so finster drein, wie dies einem hellbraunen Zwei-Kilo-Primaten möglich war.
Maya kletterte mit Bouboule das Dach hoch. Oben angelangt, setzten sie sich auf den unbequemen schmalen Dachfirst aus gewölbten grünlichen Ziegeln.
Die Klappe öffnete sich erneut. Benedetta und Niko kletterten heraus.
»Hat sie es heute auf uns abgesehen?«, fragte Benedetta besorgt.
Bouboule zuckte die Achseln und schniefte. »[Ich hab ihr nichts gesagt. Du und deine kleine Politikerinnen, ihr seid so verschwiegen, dass ich ihr selbst dann nichts hätte verraten können, wenn ich es gewollt hätte.]«
»Ciao, Niko«, sagte Maya. Sie reichte Niko die Hand und half ihr auf den Dachfirst hinauf.
»Wir sind uns noch nicht leibhaftig begegnet«, meinte Niko, »aber was du im Netz so sagst, ist sehr komisch.«
»Das freut mich.«
»Das blaue Auge, das ich deiner kleinen Freundin Klaudia zu verdanken habe, heilt allmählich, deshalb hab ich mich entschlossen, dich trotzdem zu mögen.«
»Das ist wirklich nett von dir, Niko. In Anbetracht der Umstände.«
»Es ist so kalt«, klagte Bouboule und schlang die Arme um die Brust. »Es ist dämlich, dass uns die Witwe so unter Druck setzen kann. Für zwei Mark laufe ich runter und ohrfeige sie.«
»Weshalb wird sie die Witwe genannt?«, fragte Maya. Sie hockten wie vier lebendige Elstern auf dem Dachfirst. Die Frage war den Umständen angemessen.
»Also«, sagte Bouboule, »die meisten Frauen verzichten im fortgeschrittenen Alter auf Sex. Nicht aber die Witwe. Sie heiratet immer wieder.«
»Sie heiratet stets den gleichen Typ Mann«, meinte Benedetta. »Künstler. Ausgesprochen selbstzerstörerische Künstler.«
»Sie heiratet Männer, die mit vierzig tot sind«, erklärte Niko. »Jedes Mal.«
»Sie versucht die armen, begabten Kerle vor sich selbst zu schützen«, sagte Benedetta.
»Und, hatte sie schon mal Glück?«, fragte Maya.
»Bislang sechs Tote«, antwortete Bouboule.
»Das muss weh tun«, meinte Maya.
»Das mag sein«, sagte Benedetta. »Sie
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