Heiliges Feuer
Anspannung ergriff Besitz von ihr. Eine Art Erwachen, als habe sich ihre Haut in ein einziges Augenlid verwandelt.
Das Licht der Welt strömte in sie ein.
Sie war innerlich zerbrochen. Und auf einmal wusste sie, dass sich daran nichts ändern würde. Sie würde nie ein Ganzes sein, die Narben tief in ihrem Innern würden niemals heilen. Sie war aus Bruchstücken und Nähten zusammengesetzt, und so würde es auch bleiben.
Jetzt aber konzentrierten sich all diese Bruchstücke zum erstenmal auf ein und dasselbe. Alles, was sie ausmachte, war ergriffen von diesem heißen Licht und nahm die Außenwelt wahr.
Dann, auf einmal, verschwand das Fenster. Sie befand sich inmitten der Welt. Sie bewohnte diese Welt. Sie schaute nicht mehr aus den Fragmenten innerhalb ihres Schädels zu ihr hinaus, sondern lebte und atmete in der Welt, auf welche die Sonne herabschien. Dies war kein Glück, nicht einmal Freude; doch die Erfahrung erfasste jede Faser ihres Seins.
Die Welt unter der Sonne verblüffte sie. Diese Welt war viel größer und interessanter, als die kleine Welt in ihrem Innern es jemals sein konnte. Diese Welt berührte sie überall. Sie hatte bloß richtig hinschauen müssen. Sie war Teil dieser Welt. Sie war lebendig und bewusst und hellwach, im klaren Tageslicht. Die Welt war vollständig, unübersehbar, unausweichlich und auf befreiende Weise wirklich.
»Ich fühle, wie der Wind durch mich hindurchweht«, flüsterte sie.
Olga grunzte bloß.
Maya wandte sich zu ihrer behaarten Gastgeberin um. »Olga, verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will? Ich begreife es selber kaum. Ich habe schwere Zeiten durchgemacht. Ich glaube - ich glaube, ich habe eine Art Anfall.«
»[Sie begreifen überhaupt nichts]«, sagte Olga. »[Zum Leben braucht es Geduld. Sie sind unbedacht, Sie reden zu viel, Sie haben es zu eilig. Ich verstehe mich darauf, geduldig zu sein. Trauer ist schlimm, aber man kommt drüber hinweg. Schuld ist schlimm, aber man kommt drüber hinweg. Das wissen Sie noch nicht. Deshalb bin ich klüger als Sie, obwohl ich eine Äffin bin.]«
»Das mit Ihren Katzen tut mir aufrichtig Leid. Ich würde wirklich alles tun, um es ungeschehen zu machen.«
»[Schon gut, essen wir noch ein paar Steine.]«
»Das sind Austern, Olga. Das sind Austern. Ich hole noch ein paar.« Die Sonne schien aufs Rote Meer, und sie war heiß und wirklich. Es würde bestimmt Spaß machen, im Wasser zu waten. Es wäre bestimmt herrlich zu schwimmen. Maya entkleidete sich.
»Austern«, sagte Olga laut. »[Manche Worte sind wirklich komisch.]«
Seit dem Skandal mit Helene hatten sie keinen Zutritt mehr zum Tete. Ein Skandal allein aber vermochte einen so einfallsreichen Mann wie Paul nicht aufzuhalten. Er hatte in der Helleniki Dimokratia einen neuen Treffpunkt gefunden. Er hatte eine große Immersion arrangiert.
Griechenland im Sommer war wundervoll. Dieses Land hatte eine große Kultur ebenso mühelos hervorgebracht wie Brot den Schimmel. Die Ferienanlage lag außerhalb der kleinen Stadt Korinthos, in den duftenden, bewaldeten Hügeln der Peleponnes. Die Anlage gehörte einem vierzigjährigen Multimillionär, der in der nur unvollständig erforschten industriellen Wildnis Ostdeutschlands ein Vermögen mit Müll gemacht hatte. Als einer der jüngsten wahren Neureichen in Europa gefiel sich der exzentrische Spekulant darin, anderen ein Ärgernis zu sein.
Und nun lagerten Paul und etwa dreißig seiner lebendigen Anhänger um den funkelnden Pool der Anlage, eingecremt und in große, mit Stecknadeln zu Togas geformte Badetücher gehüllt. Sie waren in größeren Schwierigkeiten als je zuvor in ihrem kurzen Leben, und sie waren bester Stimmung.
»Hier, Weintrauben«, sagte Benedetta und reichte Maya eine gestielte Keramikschüssel.
»Natürliche Früchte sind voller Toxine«, sagte Maya.
»Das ist genmanipuliertes Wunderobst.«
»Okay, gib mir eine Traube.« Sie probierte eine Traube. Sie schmeckte herrlich. Maya stopfte sich eine Handvoll in den Mund.
»Die sind herrlich«, sagte sie. »Gib mir noch ein paar. Mach mich fett, ruinier meine blöde Karriere.«
Benedetta lachte. Die nackte, lachende Benedetta bot einen bezaubernden Anblick. Sie glich einer eingecremten Wassernymphe. Sie waren so unangestrengt nett, diese modernen jungen Leute. Unsterbliche, deren Togas gewebt waren aus der erlesensten technischen Rhetorik. Übernatürlich gesunde Wesen.
»Ich bin in letzter Zeit ständig hungrig«, sagte Maya, auf den Trauben kauend.
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