Heiliges Feuer
Moment hatte sie die Erinnerung parat, und das Herz zappelte ihr im Leib wie die Motte im Spinnennetz. Eines Nachts hatte sie nach ihrer schlafenden Tochter geschaut. Chloe war damals fünf, sechs Jahre alt gewesen. Daniel war bei ihr gewesen. Das Kind ihrer Liebe hatte tief und fest geschlafen; es fühlte sich behütet.
Menschenleben, ihr Menschenleben. Eine Nacht, die sich nicht sehr von tausend anderen Nächten unterschied, bloß dass sie in diesem Moment eine tiefe Freude verspürte, eine Art heiliges Feuer. Ohne ein Wort mit ihm zu wechseln hatte sie gewusst, dass ihr Mann das gleiche empfand wie sie, und sie hatte ihm den Arm um die Hüfte gelegt. Es war ein wortloser, zeitloser Moment gewesen.
Und jetzt betrachtete sie eine nackte Fremde unter Drogeneinfluss, die auf ihrem Teppich lag, und dieser geheiligte Moment war ihr wieder gegenwärtig geworden, so wie er gewesen war und immer sein würde. Diese Fremde war nicht ihre Tochter, und dieser eine Moment des langen Jahrhunderts war anders als jener andere verflogene Augenblick, doch darauf kam es nicht an. Das heilige Feuer war wirklicher als die Zeit, wirklicher als alle äußeren Umstände. Sie lebte nicht bloß eine glückliche Erinnerung nach. Sie erlebte Glück. Sie war glücklich.
Die heiße Glut der tiefen Freude hatte ihr Aschebett verlassen. Noch immer voller mysteriöser, unergründlicher Bedeutung. So kostbar und lebendig und authentisch wie nur irgendein Gefühl, das sie jemals empfunden hatte. Eine Emotion, die andauern würde bis zu ihrem Tod, eine Emotion, die sie am Tag der Abrechnung würde in Betracht ziehen müssen. Ein umfassenderes Gefühl als das Bewusstsein ihrer Identität. Sie spürte, wie die Freude in ihr knisterte und knackte, und im flackernden Licht ihrer Glut erkannte sie, wie armselig ihr Leben war.
Ganz gleich, wie sorgsam sie sich behütete, das Leben war zu kurz. Das Leben würde immer zu kurz sein.
Mia vernahm ihre eigene Stimme in der Stille des Zimmers. Als die Worte an ihre Ohren drangen, spürte sie die Kraft einer unerbittlichen Entschlossenheit. Ein Augenblicksentschluss, plötzlich, unbewusst, ungewollt, aber unwiderruflich: »Ich kann so nicht weitermachen.«
2
Was den Umfang, die technischen Details und die Fähigkeit zu onkelhafter Beruhigung betraf, kam der medizinischen Netzberatung niemand gleich. Eine umfassende Lebensverlängerung war eine persönliche Krise, ähnlich der Pubertät, dem Bau eines Hauses oder dem Eintritt in die Armee.
Der medizinisch-industrielle Komplex nahm in der globalen Ökonomie eine dominierende Stellung ein. Die Biomedizin wies von allen Industrien die höchsten Investitions- und Innovationsraten auf. Die Biomedizin war in einem Zustand kontrollierter Raserei begriffen und gab dabei genug Hitze ab, um die ganze Kultur voranzutreiben. Die Regierungsausgaben auf diesem Gebiet übertrafen die Aufwendungen für Verkehr, Polizei und die so genannte Verteidigung. Auf dem Gebiet, das früher einmal als privater Sektor gegolten hatte, war die Biomedizin größer als die chemische Industrie und fast so groß wie die Computerindustrie. Die verschiedenen Bereiche des medizinisch-industriellen Komplexes beschäftigten 15 Prozent der arbeitenden Weltbevölkerung. Der Bereich der gerontologischen Forschung allein war größer als die Landwirtschaft.
Der Preis hieß Überleben. Niemand ließ sich von der Aussicht zu scheitern abhalten. Das Spektrum der Forschung war breit gefächert. Für jede einzelne lebensverlängernde Maßnahme, die für die Anwendung beim Menschen zugelassen wurde, gab es Hunderte von Vorhaben, welche über die gewaltigen Mengen gepeinigter Labortiere niemals hinausgekommen waren. Neue Verfahren wurden von Medizinethikern zugelassen. Ältere und weniger erfolgreiche Techniken wurden ausgemustert und mit ihnen die glücklosen Investoren.
Es gab hundert verschiedene kluge Methoden, eine Lebensverlängerung zu beurteilen. Hielt man sich an die Standardmethoden, war einem eine durchschnittliche Lebensverlängerung praktisch garantiert. Stellte man sich jedoch einer brillanten Neuerung als Freiwilliger zur Verfügung, überlebte man möglicherweise den Rest seiner Generation. Dabei galt es allerdings zu bedenken, dass Neuheit und technische Raffinesse an sich keine Garantie für lang anhaltenden Erfolg waren. Zahlreiche Entwicklungslinien des medizinischen Fortschritts beschrieben eine nach innen gerichtete Spirale, bis sie in einer Art Schwarzem Loch verschwanden,
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