Heiliges Feuer
während die Überlebenden als körperliche und seelische Wracks zurückblieben.
Die Technik medizinischer Upgrades entwickelte sich nicht stetig, sondern in konvulsiven organischen Sprüngen. Ein beliebiges, in den Neunzigern zugelassenes Standardupgrade war (grob geschätzt) etwa doppelt so wirksam wie das beste Upgrade der achtziger Jahre. In den Sechzigern und Siebzigern hatte es auf dem Gebiet der Lebensverlängerung paradigmatische Durchbrüche gegeben. Die Kunststückchen, die man in den Fünfzigern als ›Medizin‹ bezeichnet hatte (und die damals höchst eindrucksvoll gewesen waren), konnten nach modernen Maßstäben kaum als Lebensverlängerung gelten. Die medizinischen Techniken der Fünfziger hatten heute allenfalls noch als allgemein gebräuchliche Hygienemaßnahmen Gültigkeit. Sie waren sogar erschwinglich.
Und was die traditionellen medizinischen Verfahren aus der Zeit vor 2050 betraf, so waren diese kaum mehr gebräuchlich. Sie waren gefährlich, kontraproduktiv und basierten auf einer grundlegend falschen Sicht der biologischen Realität.
Unter diesen Umständen war man gut beraten, sein Upgrade möglichst lange hinauszuschieben. Je länger man wartete, desto bessere Wahlmöglichkeiten hatte man. Bedauerlicherweise schritt der natürliche Alterungsprozess in der Zwischenzeit voran, sodass man aufgrund des natürlichen metabolischen Verfalls kumulative Schäden erlitt, wenn man zu lange wartete. Früher oder später musste man sich an die eigene Nase fassen und eine Entscheidung treffen. Da der Erfolg der Avantgardeforschung definitionsgemäß ungewiss war, gaben die staatlichen Behörden auch keine Garantien ab. Das Streben nach einem längeren Leben war somit zu einem fundamentalen Freiheitsrecht geworden, welches der Entscheidung des Einzelnen unterworfen war. Die Politas bot einem ihren Rat an, der in endlosen öffentlichen Anhörungen einer Unzahl von Experten zustandegekommen war, doch ein Rat war eben bloß ein Rat.
Wenn man schlau war oder Glück hatte, wählte man eine Upgrademethode mit ausgezeichnetem Langzeitpotenzial. Dann standen die eigenen Chancen gut. Man hatte eine ganze Weile zu leben. Die gewählte Methode würde populär werden und es auch bleiben. Die Basis der Anwender würde breiter werden, und das brächte einige Vorteile mit sich. Kam es zu Komplikationen, dann stünde eine Menge Sachverstand zur Verfügung, um damit umzugehen.
Hatte man kein Glück oder war man einfach dumm, bezahlte man den kurzfristigen Nutzen mit langfristigen Nachteilen. Im Laufe der Jahre geriet man in die Isolation und wurde zum Außenseiter.
Die wahrhaft schlechten Methoden waren die, welche den Wechsel zu anderen und besseren Upgrades erschwerten. War die eigene Lebensqualität erst einmal irreparabel beeinträchtigt, blieb einem keine andere Wahl mehr, als sich um die Todesqualität zu kümmern.
Es gab zahlreiche Methoden, die eigenen Chancen zu verbessern. Beispielsweise konnte man sich durch wiederholtes Wohlverhalten hervortun. Man beteiligte sich stets an der Wahl, engagierte sich bei wohltätigen Einrichtungen, kümmerte sich mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Lied im Herzen um seine Mitmenschen. Man trat dem Sozialdienst bei und beteiligte sich an Netzkomitees. Man nahm aufrichtig und nachprüfbar am grundlegenden Wohlergehen der Gesellschaft Anteil. Offiziell wollte die Gesellschaft, dass man am Leben blieb. Wahrscheinlich war man alt, angepasst und eine Frau. Die Politas, welche das wertvolle öffentliche Engagement zu schätzen wusste, belohnte einen mit gewissen Vergünstigungen. Dann war man genau die Art Person, die in der modernen Gesellschaft im wesentlichen die Macht ausübte.
Übernahm man selbst die Verantwortung für seine tägliche Gesundheitspflege, zeigte sich die Politas für die Entlastung des Gesundheitswesens erkenntlich. Man hatte seinen Lebenswillen objektiv unter Beweis gestellt. Die Ernsthaftigkeit, mit der man sich um Langlebigkeit bemühte, ließ sich aufgrund der allgemein zugänglichen medizinischen Daten von jedermann mühelos überprüfen. Man zeigte Disziplin und Weitblick. Man war verhältnismäßig kostengünstig am Leben zu erhalten, denn man hielt sich gut in Schuss. Man hatte es verdient zu leben.
Manche Leute zerstörten ihre Gesundheit, jedoch nur selten mit Absicht. Vielmehr mangelte es ihnen an Weitblick, denn sie waren leichtsinnig, ungeduldig und handelten unverantwortlich. Es gab viele medizinisch leichtsinnige Menschen auf der
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