Heiliges Feuer
doch die wiederholten neuralen Reinigungen hatte gewisse periphere Nerven arg in Mitleidenschaft gezogen. Dies betraf zumal das untere Rückgrat und die langen Nervenleitern der Beine. Ihr Vagus war in besonders schlechter Verfassung. Ihr schwacher Vagus stellte keine tödliche Bedrohung dar, doch die Herzaussetzer waren überhaupt nicht angenehm.
Mias verstopfte Lymphgefäße verursachten ihr ständig Ärger. Im linken Ohr hatte sie häufig Anfälle von Tinnitus, und mit dem rechten hörte sie keine hohen Töne mehr. Die Gelenkschmiere der Fußknöchel und Handgelenke hatte einen Großteil ihrer Gleitfähigkeit eingebüßt. Die Zellen der menschlichen Augenlinsen erneuerten sich nicht, daher musste sie sich mit dem Verlust der Akkomodationsfähigkeit und dem daraus resultierenden Astigmatismus abfinden.
Stress machte alles nur noch schlimmer. Stress machte einen stärker, solange man jung war, er war lehrreich. Im Alter aber war Stress der schnellste Weg zur Senilität.
Heute konnte sie nicht einschlafen. Sie war nicht mehr jung. Der Umstand, dass sie ihre Wohnung mit einer jungen Frau teilte, und sei es nur vorübergehend, hatte ihr diese Tatsache wieder bewusst gemacht. Sie spürte Bretts Anwesenheit, ihren kräftigen Herzschlag und ihren leichten Atem wie die Gegenwart eines wilden Tieres.
Mia stand auf und ging nach dem Mädchen sehen. Brett hatte sich von der Decke freigestrampelt und war in einen ursprünglichen Zustand ergötzlicher Ruhe eingetreten. Sie lag lang ausgestreckt auf dem gemusterten Teppich wie eine Haremssklavin, in jener Art von tiefem, mattem, erotischem Schlummer gefangen, der Frauen nur auf französischen Genrebildern des neunzehnten Jahrhunderts zugänglich war. Neid stieg in Mia auf wie giftiger Rauch. Sie ging zurück zum Bett, setzte sich darauf und dachte voller Bitterkeit über das Ereignisgefüge nach, das sie als ihr Leben bezeichnete.
Schließlich fiel sie in den Schlaf. Um drei Uhr morgens setzten die allnächtlichen Krämpfe ein. Das linke Bein zuckte, als hinge es am Haken, und die Wade wurde unter der Decke steinhart. Nach einem fürchterlichen Moment setzte in der linken Fußsohle ein noch schmerzhafterer Krampf ein. Ihre Zehen krümmten sich wie Angelhaken und verharrten in dieser Haltung.
Mia schrie gedämpft auf. Sie schlug mit den Knöcheln auf das verkrampfte Fleisch ein. Der Schmerz wurde immer schlimmer, die Lebenskraft ihres Körpers hatte sich kurzgeschlossen und gegen sie gewandt. Das hatte mit Kalium und Aminobrenzkatechin und allerlei dummen Begriffen zu tun und bedeutete doch bloß Schmerz. Sie schlug auf den heimtückischen Muskel ein. Mit einem kleinen spastischen Zucken erschlaffte der Wadenmuskel, inwendig nichts als heißes Gummi und Blut. Wimmernd massierte sie den blassen, blutleeren Fuß. Die Sehnen im Fuß und im Knöchel knackten, als sich der Krampf gegen ihren Griff zur Wehr setzte.
Als sie den Fuß aus der bösartigen Umklammerung befreit hatte, erhob sich Mia und humpelte im Nachthemd durchs Zimmer. Sie stützte sich mit beiden Armen gegen die Wand, beugte sich vor und streckte methodisch die Achillessehnen. Der Schlaf war jetzt ebenso fern wie Stuttgart. Ihr linkes Bein fühlte sich an wie ein verbranntes Seil.
Diese Anfälle hatten nichts Mysteriöses an sich. Über ihre Ursache wusste sie genau Bescheid: Kaliummangel, Abnutzungserscheinungen im Bereich der unteren Wirbelsäule, Ausschüttung von Stress-Histaminen durch Nervenleiter eines bestimmten Rückenwirbels, eine zelluläre metabolische Kaskade - doch das war bloß die Diagnose. Stress war der Grund oder aber mangelnde Bewegung, und etwa alle fünf Wochen traten die Krämpfe ganz von alleine auf.
Die Wahrheit war: sie war alt. Nächtliche Krämpfe waren da eher ein geringeres Übel. Die Menschen wurden eben sehr alt, und dann passierten seltsame Dinge mit ihnen, und sie reparierten, was die sich rasend schnell entwickelnde Technik ihnen zu reparieren ermöglichte, und was sie nicht zu heilen vermochten, das erduldeten sie. In gewisser Weise waren die nächtlichen Krämpfe sogar ein gutes Zeichen. Sie bekam die Krämpfe, weil sie noch laufen konnte. Sie war nicht bettlägerig. Sie konnte sich glücklich schätzen. Das musste sie sich vor Augen halten: ihr Glück.
Mia wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Sie humpelte ins vordere Zimmer. Brett schlief noch. Sie lag ganz entspannt da, den Kopf auf einen Arm gebettet. Plötzlich hatte Mia ein Deja vu.
Im nächsten
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